Nilowsky
Sicherlich, dachte ich, kann Tantra dazu dienen, ein besseres Karma zu bekommen.
Carola ging vom Fenster weg und zog sich ihren Mantel an. Dann kramte sie in der Manteltasche und holte einen Pfirsichkern hervor. »Pass auf!«, sagte sie. »Unten auf der Stufe zur Eingangstür zum Bahndamm-Eck ist eine Platte lose. Die nehme ich hoch, lege dieses Prachtexemplar rein und die Platte wieder drauf. Solltest du dich mit mir treffen wollen, nimmst du den Kern da raus, und ich werde dich bald, nein, umgehend werde ich dich besuchen kommen. Na denn, schönen Abend noch.«
Mit diesem letzten Satz verließ sie mein Zimmer. An der Wohnungstür verabschiedeten wir uns wie Geschäftspartner mit einem kräftigen Händeschütteln. Auf einmal deutete sie auf ihre Manteltasche, in der der Pfirsichkern wieder war, und meinte grinsend: »Aber nicht in den Mund nehmen und runterschlucken.«Kaum hatte sie das gesagt, hüpfte sie fröhlich die Treppe hinunter.
Prompt kamen mein Vater und meine Mutter aus dem Wohnzimmer. »Deine Freundin?«, fragte mein Vater. »Hättest du uns ja mal was von erzählen können.« Und meine Mutter: »Sieht noch ein bisschen jung aus. Wie alt ist sie denn?«
»Neun«, sagte ich. Und mein Vater, nach kurzem Überlegen: »Quatsch. Ich würde sie auf zwölf schätzen. Wenigstens elf.«
»Wenn du meinst, du hast wieder mal recht«, entgegnete ich, »will ich dich nicht überzeugen.«
Ich ging in mein Zimmer und hoffte, dass sich meine Eltern die quälerische Frage stellen würden, was sie nur alles falsch gemacht hätten, dass es zu dieser Unglaublichkeit kommen konnte: Ihr vierzehnjähriger Sohn und eine neunjährige Freundin.
Am nächsten Morgen schaute ich ins Fremdwörterbuch meiner Eltern und fand meine Vermutung nicht nur bestätigt, sondern geradezu übertroffen: Platonisch hieß soviel wie geistig-seelisch, unsinnlich, unkonkret, zu nichts verpflichtend. Klang nicht sehr erstrebenswert. Der Begriff Tantra hingegen war im Fremdwörterbuch nicht verzeichnet. Möglicherweise, dachte ich, ist er verboten. Ich fragte mich allerdings, was denn so gefährlich sein soll am Einklang von Körper und Seele. Mir fiel nichts ein. Auch Karma fand ich im Fremdwörterbuch nicht vor. Ich ging zur Eingangstür vom Bahndamm-Eck , hob die lose Platte hoch und sah den Pfirsichkern. Umgehend wollte mich Carola besuchen kommen, sobald der Kern weg war. Kaum vorstellbar. Es sei denn, sie war irgendwie in der Lage, die Eingangstürzu beobachten oder beobachten zu lassen. Vielleicht sollte ich, um das zu prüfen, den Kern einfach mitnehmen. Nein, fand ich, das steht mir nicht zu. Rasch legte ich die Platte wieder an ihren Platz und ging eilig weg.
20
Zwei Tage später ließ mir Nilowsky wieder einen Brief überbringen. Diesmal von Wally. Ich war auf dem Weg zur Schule, als sie hinter einer Häuserecke hervortrat und wie selbstverständlich neben mir herging. »Ick hab wat für dir«, sagte sie nach etwa zwanzig Metern mit ihrer rauhen Stimme. »Ick meine, der Reiner hat ja ’n Narren an dir jefressen. Nennt dir immer sein’ Freund. Und hier nun hab ick sogar ’n Brief, den er dir jeschrieben hat.«
Sie reichte mir einen zugeklebten Briefumschlag. Bevor ich mich bedanken oder überhaupt etwas sagen konnte, bog sie um die nächste Ecke und tippelte davon. Ich wollte den Brief erst nach der Schule, zu Hause, öffnen, aber dann war ich doch zu neugierig, nahm ihn aus dem Umschlag und las:
Carola. Sie wurde gesehen. Als sie Dich besuchen kam. Aber dafür kannst Du ja nichts. Nehme an, sie kam einfach zu Dir. Ohne Verabredung. Ich vertraue Dir. Deshalb sollst Du am Sonntag zu Wally kommen. Weißt ja, wo sie wohnt. Zwei Uhr nachmittags. Auf jeden Fall pünktlich. Brauchst nichts mitbringen. Und nun wieder das Wichtigste: Sobald Du den Brief gelesen hast, zerreißt Du ihn. In viele kleine Stücke. Wirfst ihn weg. Aber in keinen Papierkorb oder Mülleimer. Nein, wiederins Klo. Und runterspülen. Gehe sicher, dass alles weg ist.
Wieder dieser telegrammartige Stil und die dazu passenden akribischen Druckbuchstaben. Wie gern hätte ich auch diesen Brief aufgehoben. Aber ich zerriss ihn in viele kleine Teile, und kaum war ich in der Schule, ging ich aufs Klo und spülte die Teile hinunter.
Um bloß nicht zu spät zu kommen, war ich am Sonntag schon zehn Minuten eher vor dem Haus, in dem Wally wohnte. Die Jalousien an den Fenstern ihrer Erdgeschosswohnung waren heruntergelassen. Um Punkt vierzehn Uhr klingelte ich an ihrer
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