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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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Tür.
    Wally öffnete und winkte mich wortlos herein. Sie trug ihre Kittelschürze aus Dederon, doch die grauen Haare mit den Resten brauner Färbung waren diesmal offen, standen nach allen Seiten ab und gaben ihr etwas Verwegenes. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort lag unter matt leuchtender Deckenlampe Nilowsky, nur mit Turnhose bekleidet und mit geschlossenen Augen, rücklings auf dem Teppich. Um ihn herum knieten Roberto und zwei weitere Mozambiquaner. Sie strichen gewissenhaft, ja voller Hingabe, mit Hühnerfedern über Nilowskys Oberkörper. In der Ecke des Zimmers im untersten Fach der Schrankwand hockte in einem Holzkäfig ein Huhn, das gebannt auf die Szenerie starrte und keinen Laut von sich gab.
    »Dit is Wudu«, flüsterte mir Wally zu. »Dit nennt sich so. Behauptet jedenfalls Roberto.«
    Ich nickte wie ein gelehriger Schüler, während Roberto, seine Mitstreiter und Nilowsky keine Reaktion zu erkennen gaben. Sie waren vollkommen in ihre Streichelzeremonievertieft. »Pass uff«, sagte Wally und stieß mich mit dem Ellenbogen an, »wir kümmern uns jetzt mal um dit Huhn.«
    Wir gingen aber nicht in die Zimmerecke, in der das Huhn stand, sondern in die Küche. Wally drückte mir einen Schleifstein und ein Messer in die Hand. »Hier, mach dit mal scharf.« Sie nahm ein Stück Strippe aus einer Schublade. »Für die Beene von dit Huhn«, erklärte sie, schaute mich an und fragte besorgt: »Wat is ’n? Wirst ja richtig blass. Willste ’n Schnäpperkin?«
    »Nee, nee«, antwortete ich und begann, das Messer zu schleifen, während sich Wally ein Glas Wodka einschenkte und trank.
    Einer der Mozambiquaner kam in die Küche. Wir hatten uns schon im Chemiewerk und bei Carla Serrinis Beisetzung gesehen. »Guten Tag, ich bin Ricardo.«
    Er machte eine tiefe Verbeugung, dann nahm er mir das Messer ab, betrachtete es und sagte: »Schönes Messer. Schön scharf. Kommt mit. Prozedur fängt an.«
    Wally drückte mir noch einen Plastikeimer in die Hand, »für den Kopp, damit der nich uff mein’ Teppich fällt«, bevor wir Ricardo ins Wohnzimmer folgten. Roberto hatte das Huhn aus dem Käfig genommen und hielt es in beiden Händen, während der dritte Mozambiquaner unverändert Nilowskys Oberkörper streichelte. Das Huhn gab noch immer keinen Laut von sich. Vielleicht, dachte ich, hat es eine Art Schockstarre, oder es geht davon aus, dass es nicht als Huhn gilt, wenn es sich nicht anhört wie ein Huhn. Einen Moment lang glaubte ich, es würde mich ansehen. Flehentlich, falls der Blick eines Huhns flehentlich sein kann. Ricardo griff nach dem Kopf, drückte ihn nach hinten, sodass erden nunmehr gestrafften Hals rasch und komplikationslos durchschneiden konnte. Ich hielt den Eimer unter das Huhn, in den Ricardo den Kopf mit einer Behutsamkeit hineinlegte, die mir unpassend vorkam.
    Wally schnappte sich die Hühnerbeine, um sie mit der Strippe festzubinden. Plötzlich aber löste sich der kopflose Körper des Huhns mit einer unglaublichen Schnellkraft oder schlicht durch ein Wunder aus Robertos Griff und Wallys Händen. Das Huhn sprang auf den Teppich, sprang auf dem guten Stück umher, sprang gegen die Wand, gegen das Fenster und schließlich in den Käfig, in dem es regungslos hockenblieb.
    Mit jedem Sprung hatte das Huhn Blut aus seinem Hals geschleudert, das auf dem Teppich landete, an der Wand, am Fenster. Wally schrie und schimpfte: »Mein Teppich, mein juter Teppich! Nun fangt bloß mal dit Huhn, dit blöde Huhn, ihr Idioten! Dit Vieh ruiniert mir ja die janze Wohnung!«
    Roberto, Ricardo und der dritte Mozambiquaner, den die beiden Pedro nannten, versuchten das Huhn zu fangen, während ich mit beiden Armen den Eimer umklammert hielt, in dem der Kopf vor sich hin zuckte. Nilowsky hingegen lag ohne den Hauch einer Bewegung, die Augen unverändert fest geschlossen auf dem Boden. Erst als das Huhn wieder im Käfig hockte, sagte er: »Wenn jetzt die Prozedur nicht mehr möglich ist, was ist dann, wenn die jetzt nicht mehr möglich ist, die Prozedur?«
    »Alles in Ordnung«, rief Roberto. »Prozedur hat keinen Schaden genommen.« Um noch zusätzliche Beruhigung zu stiften, fügte er hinzu: »Allet klärchen.«
    Diese Redewendung hatte ich bisher nur von NilowskysVater gehört. Vielleicht geriet Reiner deshalb kurzzeitig in Rage: »Na, wenn alles klar ist, dann macht endlich weiter, meine Güte nochmal, sonst ist bald nicht mehr alles klar, sondern gar nichts mehr.«
    Das Huhn, als hätte es sich nur noch einmal gehörig

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