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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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gehen irgendwohin!«
    Pfirsichkern und Hühnerblutfläschchen in der Hosentasche folgte ich ihr nicht irgendwohin, sondernzum Friedhof, auf dem Nilowskys Vater und Carla und Maria Serrini lagen, aber auch Carolas Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, einige Tanten, Onkel, Großcousinen und Großcousins.
    »Hier landen sie irgendwann alle«, stellte Carola fest, »auch wenn sich im Leben die einen oder anderen aus dem Wege gingen. Konvergenz im Tod, falls du verstehst, was ich meine. Ist ein Fremdwort und heißt: gegenseitige Annäherung. Komm, wir machen eine Gießtour!« Sie grinste mich an. »Das Wasser wird auf den Gräbern gefrieren, das heißt, die Seelen der Verstorbenen können runterkommen und ein bisschen rumschlittern auf ihren eigenen Gräbern. Die müssen ja auch mal ein wenig Vergnügen haben, logisch, oder?«
    Sie hüpfte erst übermütig eine Runde um mich herum, nahm mich schließlich an der Hand und zog mich zu einem Regal mit Gießkannen, das neben einer Wasserstelle aufgebaut worden war. Sie schloss eine der angeketteten Gießkannen frei, drückte sie mir in die Hand und sagte: »Einmal vollgießen bitte. Und ab die Post. Du hast heute Gießdienst.« Sie rieb sich die Hände, als hätte sie jemandem einen Streich gespielt, während ich den Wasserhahn aufdrehte und die Gießkanne volllaufen ließ.
    Dann folgte ich ihr von Urnenstelle zu Urnenstelle, von Onkel Antatsch zu Tante Fettsucht, von Oma Vergesslichkeit zu Opa Hundertfuffzigprozentig, von Analphabeten-Leo zu Krebs-Käthe. Ich goss, holte neues Wasser, goss weiter, und Carola erzählte: Onkel Antatsch hatte ihr bei jeder Gelegenheit wie aus Versehen an den Hintern gefasst. Erst auf dem Sterbebett gab er unumwunden zu, dass er an nichts anderes mehr denkeals an ihren Hintern. Noch einmal, nur noch einmal wolle er ihn – bitte, bitte – anfassen. Carola, elf Jahre alt, hielt ihm den Hintern hin, blitzschnell aber drehte sie sich um, packte seine Hand und brach ihm das Handgelenk. Tante Fettsucht, die Ehefrau von Antatsch und fast zwei Zentner schwer, war derart schockiert, dass sie, anstatt dem schreienden Alten zu helfen, sich erstmal setzen musste. Plötzlich jedoch sprang sie auf, schrie und rannte Carola hinterher, die einen Haken nach dem anderen in der engen Wohnung schlug, sodass sich Tante Fettsucht erneut setzen musste, keuchend vor Erschöpfung. Nur vier Wochen überlebte sie ihren Mann, eine Folge des, wie Carola es nannte, kleinen Laufwettbewerbs. »Logisch, oder?«
    Oma Vergesslichkeit hingegen war eigentlich ganz lieb gewesen, aber sie hatte Also-Heimer. Nicht nur dass sie alles vergaß, was man ihr erzählte, sie sagte auch immer also . »Also, wie is dit jetze, also, wann hast du Jeburtstag, Kindchen, also, wie alt wirste denn also eijentlich, also, wie heißt der Opa, wie is dem sein Name?« Carola antwortete: »Opa Hundertfuffzigprozentig, also das ist dem sein Name.«
    Oma Vergesslichkeit darauf: »Ach, kiek mal an.« Kurze Pause. »Wie heißt der Opa, also wie is dem sein Name?« Und Carola: »Ach, Omachen, du hast ja Also-Heimer.«
    »Wat hab ick?«
    »Also-Heimer!«
    »Wie heißt der Opa, wat is dem sein Name?«
    Als bei der Oma Also-Heimer ausgebrochen war, war Opa Hundertfuffzigprozentig schon ein Jahr tot. Er war ein hundertfünfzigprozentiger SED-Genosse gewesen,ein Linksüberholer. Einer, der Stalin, dem großen Georgier, wie er ihn nannte, nachweinte, und den er nur in einer einzigen Hinsicht kritisierte: »Der Genosse Stalin, der große Georgier, der hätte auch die ganze Bande, die ihn nach seinem Tod schlecht machte, diese Revisionistenbande, die hätte er auch ab nach Sibirien und ab durch ’n Schornstein.«
    Sein Neffe, Analphabeten-Leo, pflegte daraufhin zu sagen: »Du solltest dir schämen, sowat von dir zu jeben. Weißte denn nich, dass der Stalin noch mehr Menschen uff ’m Jewissen hat als der Hitler?« – »Ja, aber eben nicht genug«, konterte Opa Hundertfuffzigprozentig. »Das ist doch meine Rede, oder hast du nicht richtig zugehört? Du bist zwar Analphabet, aber dass du deshalb nicht mal mehr richtig zuhören kannst, ist mir neu.«
    Analphabeten-Leo hatte zwar nur eine deftige Leserechtschreibschwäche, doch wenn er von dem stalinistischen Opa als Analphabet bezeichnet wurde, schwieg er betroffen und beschämt. Nur seine Schwester, Krebs-Käthe, begehrte stattdessen auf: »Du alter Sack, du perverser Oberkommunist, ick wünsche den Tag herbei, dass du inne Grube liegst und mein Bruder

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