Nilowsky
meinte Reiner, ›ist es mit mir und Carola. Genauso.‹ Ick sagtenischt dazu, ick dachte nur: Dit soll nu eener verstehen, dachte ick.«
»Das kann man verstehen«, erwiderte ich. Es klang etwas nassforsch. Aber das war mir jetzt egal. Und Wally schien gespannt darauf, dass ich es ihr erklärte. »Die unterdrückte Klasse«, erläuterte ich, »das ist Reiner. Die will nicht mehr, die unterdrückte Klasse, also Reiner. Und die herrschende Klasse, also Carola, die kann nicht mehr. Die kann nicht mehr anders, als sich zu verlieben. Und so kommen sie zusammen. Weil es nicht anders geht. Irgendwo in der Ferne, irgendwann. Und das ist Revolution.«
»Aha, so siehst du dit.« Wally nickte nachdenklich. Dann sagte sie: »Na ja, ick dachte immer, die unterdrückte Klasse wäre nach der Revolution die herrschende Klasse. Hat dit nich Lenin jesagt? Jedenfalls, wat soll da noch mit Liebe sein?«
»Ja«, erwiderte ich, »Reiner ist die herrschende Klasse, sobald er mit Carola zusammen ist. Aber eine gerecht herrschende Klasse. Eine Klasse voller Liebe. Und das heißt, dass Carola nicht die unterdrückte Klasse ist. So jedenfalls hat Lenin das gemeint. Logisch, oder?«
»Hauptsache, nich platonisch«, sagte Wally und lachte. Plötzlich jedoch füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Jetzt pass uff, jetzt kommt wat Kitschiget. Dit heißt: Wat sehr Schönet. Wat Romantischet. ›Wir werden uns‹, sagte Reiner nämlich, ›wir werden uns höchstwahrscheinlich nicht wiedersehen. Nie, niemals. Und deshalb möchte ich dich küssen, zum Abschied küssen, das möchte ich. Darf ich das, dich küssen?‹ Und ick, verdattert wie ick war, aber ohne hin und her zu überlegen: ›Ja. Na klar!‹«
Sie sagte nichts weiter zu dem Kuss, aber ihr Schweigen war ein beredtes Schweigen. Sie lächelte nur. Erst nach einer Weile fand sie ihre Stimme wieder: »Und denn is er weg. Wie ’n Revolutionär, eener im Untergrund oder wie sich dit nennt, schwupps durchs Fenster uff de Straße, Kopp einjezogen und weg, wie ’n Revolutionär, so is er weg.«
Wieder schwieg sie. Und ich dachte: Wenn ich jetzt nichts frage, taucht sie möglicherweise noch weiter in ihrer Versonnenheit ab und kommt da nie wieder raus. »Und Carola?«, fragte ich. »War sie nochmal bei dir, bevor sie weg ist, weit weg?«
»Carola?« Ein schelmisches Grinsen schlich sich in Wallys Gesicht. »Carola, die will ja nie mehr älter werden. Irgendwann wird sie, um nich mehr zu wachsen, einfach nischt mehr essen. Immer kleener wird sie werden. Und denn wird sie so kleen und dünn sein von dem vielen Nichtessen, dass Elli sie inne Einkaufstasche steckt und ab mit ihr, rüber in ’n Westen. Weit, weit weg.« Wallys Grinsen verflog. Mit einem tiefen Seufzen erhob sie sich vom Sofa. »Nee, mein Junge, Carola hat sich nich mehr jemeldet bei mir. Und nu jenehmige ick mir erstmal ’n Eierlikörchen. Und du musst los. Ab, los mit dir!«
Sie sagte es so entschieden, dass auch ich mich vom Sofa erhob und mit knappem Gruß durch das Fenster, dessen Jalousie Wally wieder hochzog, verschwand.
Ich ging kreuz und quer, diesseits und jenseits des Bahndamms. Von den älteren Frauen, bei denen ich mit Nilowsky gewesen war, besuchte ich Elli in ihrem Reich der Gewürze, zusammengestohlen aus dem Kaufhausdes Westens, und Mariechen, deren lindgrünes Kleid an einer Fahnenstange im Abendwind wehte.
»Der Reiner«, meinte Elli, »der is sicherlich dort, wo Roberto, Ricardo und Pedro sind. Und die sind vielleicht gar nich mehr bei uns inne DDR, die sind vielleicht in Polen oder inne Tschechoslowakei oder sogar in Rumänien, da passen sie ja nu mal besser hin als zu uns fleißigen Deutschen. Dit is eben schön, dass wir Deutschen die Fleißigen sind, aber manchmal isset nich nützlich. Schon gar nich, wenn et um die sozialistische Solidarität jeht. Und der Reiner, der kann als Kellner überall arbeiten. Und vielleicht findet er da, wo er is, ooch ’ne nette Frau. Ick meine, wer soll denn dit verstehen, dass er nur immer die Carola wollte? Is zwar schön, wenn ’n Mann ’ne Frau haben will, aber so hundertprozentig wie der Reiner sie wollte, da musste ja die Carola Angst kriegen. Die will eben ’n freier Mensch sein, die Carola … Jedenfalls, wenn er in Polen oder inne Tschechoslowakei oder sonst wo is, wenn er da unterjetaucht is, können ihn die Eltern von Carola nicht verhaften lassen. Zumindest will ick dit mal stark hoffen.«
»Ick könnte mir vorstellen«, sagte Mariechen hingegen, »der
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