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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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Reiner is irgendwo vorn Zug, so unglücklich wie der war. Und er war ja immer uff ’n Gleisen, da hat er sich doch immer hinjezogen jefühlt. Und Roberto und die andern Mozambiquaner, na, werden wieder in ihrer Heimat sein. In Maputo oder wie dit heißt, da werden die sein. Da is ja ooch dit Klima besser, besonders für Neger natürlich. Und Frauen, die jibt’s da ooch, jede Menge, junge, hübsche. Und ick meine, wenn ick dit Jeld hätte, würde ick als Rentnerin ooch da runter, nur maluff Urlaub. Da würden Roberto und seine Truppe aber staunen, wenn Mariechen uff eenmal vor ihnen stehen würde, in ihrem lindgrünen Kleid mitten unter lauter Negern.«
    Sie lachte, wie über eine lustige Geschichte, die aber auch sehr schön war und eines Tages vielleicht sogar wahr werden könnte. »Und weeßte eijentlich«, fuhr sie mit leiser, fast raunender Stimme fort, »dass et bei uns hier drei Grad wärmer war als anderswo in Berlin? Hab ick mehrmals jemessen mit mein’ Thermometer, sojar in West-Berlin hab ick jemessen, wie et mir noch jut jing und ick öfters drüben war. Immer drei Grad wärmer. Aber seitdem Roberto und seine Truppe weg sind, isset nur noch zwei Grad wärmer. Exakt zwei Grad. Verstehste? Die haben quasi ein Grad mitjenommen.«
    Ich verriet Mariechen nicht, dass ich über den Zusammenhang von Temperatur und Mozambiquanern bereits von Nilowsky unterrichtet worden war. Immerhin hatte ich ihm versprochen, dichtzuhalten.

27
    Noch ein paarmal fuhr ich in die Bahndammgegend, aber ich hörte nichts Neues über den Verbleib von Reiner, Carola und den Mozambiquanern. Meine Eltern beteuerten mir gegenüber, dass sie nicht wissen würden, wo Roberto und seine Leute abgeblieben seien. Bald ging ich davon aus, dass Roberto auf jeden Fall wieder in seiner revolutionären Heimat lebte, um in den Reihen der FRELIMO gegen die ehemaligen Kolonialherren zu kämpfen, die seine Mutter ermordet hatten und immer noch ihr übles konterrevolutionäres Spiel spielten. Ja, dachte ich, er muss überglücklich sein, wieder diesen Kampf kämpfen zu dürfen, denn nur wenn er den Tod seiner Mutter rächt, wird er ein ganz und gar freier Mensch sein können. Und vielleicht, dachte ich, ist es Reiner gelungen, auf irgendeinem Wege, zum Beispiel als blinder Passagier mit einem Schiff, nach Mozambique zu kommen. Ich stellte ihn mir an der Seite von Roberto vor, auf der Ladefläche eines Armeefahrzeugs, bewaffnet mit einer Kalaschnikow. So fuhren sie durch die Savanne, von Dorf zu Dorf, immer auf der Suche nach den Verstecken feiger Konterrevolutionäre. Während dieser Fahrten konnte er auch überlegen, wo sich eines Tages am besten ein Chemiewerk errichten ließe, das, wie er mir am Bahndamm erklärt hatte, hochwertige Lebensmittel in Tablettenform produzieren würde, damitin Afrika oder irgendwo sonst auf der Welt nie mehr Hunger herrsche. Und irgendwann, während sie unterwegs waren, würde Reiner eine mutige, stolze Revolutionärin kennenlernen, die sich in ihn verliebte und mit ihm Kinder haben wollte, wunderschöne Mischlingskinder, die Vitoria, Progresso oder Socialismo heißen würden – oder sogar Vermelha-Amarela-Barraca, was für mich laut Wörterbuch die portugiesische Übersetzung für rotgelbe Baracke war.
    Diese Vorstellung, so märchenhaft sie auch war, wurde mir immer vertrauter. Mit ihr glaubte ich mich von der Bahndammgegend zu lösen, und bald schon fuhr ich dort nicht mehr hin. Stattdessen entwickelte ich mich zu einem fleißigen, ehrgeizigen Schüler. Meist ging ich von der Schule aus direkt nach Hause, zog mich in mein Zimmer zurück, vertiefte mich in Hausarbeiten und las, abgesehen von Chemie, viel über naturwissenschaftliche Themen. Ich hatte mich für die Erweiterte Oberschule beworben, und Anfang April bekam ich den Bescheid, dass ich angenommen worden war. Meine Eltern öffneten zum Abendbrot eine Flasche Sekt und stießen mit mir an. Auf mich, auf meine Zukunft. Auf alles, was ich mir wünschte. Ich fühlte mich versöhnt mit ihnen, und eigentlich, dachte ich, ist das doch nur gut.

28
    Eines Nachmittags, als ich von der Schule nach Hause fuhr, die U-Bahnstation verließ und in die Vinetastraße einbog, sah ich, zwei Straßenecken weiter, eine lange dürre Gestalt, die mit dem Rücken zu mir stand und nur Nilowsky sein konnte. Das war mir sofort klar. Unterm linken Arm trug er seinen abgewetzten Lederkoffer, und um den Kopf hatte er einen Schal gewickelt, mit dem er aussah wie einer dieser deutschen

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