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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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Wehrmachtssoldaten im russischen Winter, die ich aus den Geschichtslehrbüchern kannte. Ich war noch über zehn Meter von ihm entfernt, da drehte er sich zu mir um. Ich erschrak über sein abgemagertes Gesicht. Als würde die Haut auf den Knochen kleben, so sah er aus. Die Augen waren blutunterlaufen, der Adamsapfel riesengroß und die glatten, fettigen Haare bis über die Ohren gewachsen.
    »Na? Starr mich nicht an, ich bin es. Kein Geist, keine Fata Morgana. Könnte mir nur besser gehen, könnte es. Ansonsten alles bestens.«
    Ich versuchte, mein Erschrecken zu überspielen, während ich weiter auf ihn zuging.
    Nilowsky hustete, räusperte sich, hustete wieder. »Jetzt fragst du dich, wie ich dich gefunden habe, das fragst du dich, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich, da er diese Antwort offensichtlichhören wollte. Ich konnte mir denken, dass er, obwohl von der Polizei gesucht, sich von irgendjemandem aus dem Chemiewerk die Adresse meiner Eltern hatte geben lassen.
    »Kannst du dir das nicht vorstellen?«, fragte er.
    »Kann ich«, antwortete ich. Und er, ohne mich weiterreden zu lassen: »Ganz einfach. Ich hab meine Verbindungen. Bin zwar immer unterwegs, mal da, mal dort, und keiner ist in der Lage, mich zu finden, keiner, aber meine Verbindungen, die hab ich trotzdem noch.«
    Er stand jetzt kerzengerade, genauso wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte hinterm Fenster vom Bahndamm-Eck , und roch so sehr nach Bier und Schnaps, dass ich unwillkürlich flacher atmete. Doch er wirkte kein bisschen betrunken.
    »Und du fragst dich«, fuhr er fort, »warum ich den Schal um den Kopf gewickelt hab, das fragst du dich, nicht wahr, warum ich hier herumlauf, als wenn wir noch Winter hätten, tiefen Winter. Kann dir sagen, warum. Kein Mensch quatscht mich an, wenn ich so herumlauf. Denken alle, ich wär nicht ganz dicht. Und die Polizei, die darf mich sowieso nicht sehen, die rieche ich schon, wenn die noch hundert Meter entfernt ist, ebenso wie ich dich gerochen hab, als du noch ein ganzes Stück weg warst.«
    Es schmerzte mich, dass er mich gewissermaßen mit der Polizei gleichsetzte. Dennoch traute ich mich nicht, irgendetwas zu entgegnen.
    »Komm mit!«, sagte Nilowsky, wieder in dieser Mischung aus Bitte und Befehl, die ich von ihm, aber auch von seinem Vater kannte.
    Ich folgte ihm. Wir überquerten die Prenzlauer Promenadeund liefen bis nach Heinersdorf. Kein einziges Mal begegneten wir einem Polizisten, und auch niemand sonst sprach uns an.
    »Wusstest du eigentlich«, begann er zu erzählen, »dass in Mozambique viele Inder leben, sehr viele Inder? Die sind, vor Jahrhunderten sind die an die afrikanische Küste mit ihren Schiffen, haben ihre Gewürze mitgebracht und ihre Religion. Hinduismus heißt die, und bei der geht’s um Reinkarnation, darum geht’s da. Noch nie von gehört, was? Hat mir Roberto erklärt: Reinkarnation, auf Deutsch Wiedergeburt. Und weißt du, warum ich dir davon erzähl, ausgerechnet dir? Ganz einfach. Weil Roberto in deine Mutter verliebt war. Aber sie nicht in ihn. Obwohl sie sich geküsst haben, abends vor der Baracke. Das hast du ja gesehen. Genauso wie ich es gesehen habe. Roberto jedenfalls, der fand es nicht schlimm, dass er deine Mutter nicht kriegen konnte und sie obendrein noch weggezogen ist. Roberto meinte, dass er eines Tages, meinte er, auf die Reinkarnation deiner Mutter stoßen werde, und die werde sich dann Hals über Kopf in ihn verlieben, die Reinkarnation. Da staunst du, was?«
    Ich hatte von Wiedergeburt schon mal gehört. Dass man zum Beispiel auch als Pferd oder sogar als Insekt wieder auf die Welt kommen könne. Doch es kam mir derart unwahrscheinlich vor, dass ich nie weiter darüber nachgedacht hatte.
    »Das hieße ja«, antwortete ich, »dass meine Mutter stirbt und als anderer Mensch oder – schlimmer noch – als Käfer oder Spinne wiedergeboren wird, die sich obendrein in Roberto verliebt.«
    »Na also, du weißt ja Bescheid«, stellte Nilowskyfest, während ich mich dafür schämte, den Tod meiner Mutter in Erwägung zu ziehen.
    »Ist das nicht Unsinn?«, gab ich vorsichtig zu bedenken.
    Nilowsky blieb augenblicklich stehen. »Natürlich ist das Unsinn!«, fuhr er mich an. »Das ist nicht nur Unsinn, das ist, die größte Scheiße ist das, die ich jemals gehört hab. So was kann nur aus Robertos verschissenem Verräterhirn stammen, kann das nur. Eins steht nämlich fest: Mit diesem miesen Karma, das er hat, verliebt sich nicht mal eine Bazille in ihn. Mit dem

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