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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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vor mir? Darüber hinaus kränkte es mich, dass sie mich auf eine Nachricht warten ließ. Ich gebe dir noch Bescheid, wann Du kommen kannst und wohin. Das hörte sich an, als wäre ich ihr Befehlsempfänger. Ich lief ein letztes Mal die Straße entlang und machte mich dann auf den Weg nach Hause.
    Am nächsten Nachmittag fand ich einen neuen Brief von ihr im Briefkasten. Diesmal nur mit ihrem Namen versehen. Endlich. Ich öffnete ihn sofort.
    Lieber Markus,
    bitte komme übermorgen Abend um zehn Uhr zum Auferstehungsfriedhof am St.-Joseph-Krankenhaus. Die Mauer zu diesem Friedhof ist leicht zu überwinden, am besten vom Gelände des Krankenhauses aus. Bitte komme zum Eingang der Kapelle. Dort werde ich sein. Carola.
    Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Hosentasche. Ich hätte ihn auch wegwerfen können, denn schon nach einmaligem Lesen kannte ich seinen Inhalt auswendig.
    Am Abend unserer Verabredung war ich weniger aufgeregt, als ich befürchtet hatte. Ich hatte auch nicht den Eindruck, etwas Verbotenes zu tun, während ich über ein Gittertor aufs Gelände des St.-Joseph-Krankenhauses gelangte und von dort über die Friedhofsmauer kletterte. Als wäre es das Normalste von der Welt, sich mit Carola an einer Kapelle auf einem Friedhof zu treffen.
    Punkt zehn war ich am Eingang zur Kapelle. Carola war nicht da. Ich wartete eine Viertelstunde, zwanzig Minuten, Carola kam nicht. Ich ging um die Kapelle herum, und so sehr ich auch Ausschau hielt, ich konnte sie nicht entdecken. Ich bekam Angst in der Stille und Dunkelheit. Vielleicht, dachte ich, beobachtet sie mich. Mit Nilowsky an ihrer Seite. Nilowsky, aus dem Gefängnis ausgebrochen, mit einem Erdloch als Behausung, umgeben von Knochen und Asche. Es war wie damals, das gleiche Gefühl, bevor ich mich von meiner alten Gegend verabschiedet und Wally mir mit auf den Weg gegeben hatte, dass die Zeit alle Wunden heile. Als wäre seitdem keine Zeit vergangen. Ich redete mir ein, Carola und Nilowsky wollten nur prüfen, ob auf mich Verlass sei. Sicherlich hätten sie einen Auftrag für mich: Ich solle dafür sorgen, dass Reiner ohne Gefährdung versteckt bliebe. Und um sicherzugehen, dass ich alleine gekommen war, beobachteten sie mich. Völlig verständlich.
    »Hallo, da bist du ja also.« Es war Carolas Stimme,kein Zweifel, aber sie war überhaupt nicht mehr quäkend. Ich drehte mich um. Carola, keine zwei Meter von mir entfernt, zog an einer Zigarette, und ihr Gesicht leuchtete im Licht der Glut. »Schön, dass du gekommen bist. Wartest du schon lange?«
    Ich staunte so sehr über ihre sonore, ein wenig heisere Stimme, dass ich kein Wort herausbekam. Außerdem sah sie nicht mehr aus wie dreizehn. Sie war größer und kräftiger, und auch ihre Brüste unterm Rollkragenpullover waren allem Anschein nach nicht die einer Dreizehnjährigen.
    »Praktisch, oder?«, sagte sie. »Ich meine, ein Friedhof direkt am Krankenhaus. Keine langen Wege. Ich meine, für die Leichen. Was ist los mit dir?« Sie lachte und zog erneut an ihrer Zigarette. »Du guckst, als würdest du mich kaum wiedererkennen. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich beschlossen habe, älter zu werden. Zwanzig, hab ich beschlossen. Und zwanzig bin ich ja auch, rein rechnerisch, wenn du mal scharf nachdenkst. Ein tolles Alter übrigens, kannst du mir glauben. Der Beginn einer neuen Dekade. Freust du dich, mich wiederzusehen?«
    »Ja, na klar«, antwortete ich. »Hab die ganze Woche gewartet, seit deinem Brief. Bin die Klement-Gottwald-Allee hoch- und runtergelaufen, aber nirgendwo konnte ich deinen Namen entdecken.«
    Hört sich an wie ein Verliebter, dachte ich, der sich trotzdem einen leisen Vorwurf nicht verkneifen kann. Ich sollte mich erstmal etwas bedeckter geben, sagte ich mir, und Carola noch mehr kommen lassen.
    Carola lächelte. »Meinst du, ich wohne in der Straße, die ich als Absender auf einen Brief schreibe? Du bistmir ja einer. Schon mal was von Konspirativität gehört? Komm mit!«
    Nein, von Konspirativität hatte ich noch nie etwas gehört. Dieses Wort war mir unbekannt. Ich folgte ihr über den Friedhof, an Gräberreihen entlang, über knisterndes Laub, geradeaus, rechts, links, in einem chaotischen Zickzack. Ich fragte mich, wo denn das Altweibersommerfest stattfinden sollte, und fürchtete, dass Nilowsky doch noch irgendwo in einem Erdloch auf uns wartete.
    »Eigentlich«, sagte Carola, »wollte ich das Fest ganz anders feiern. Mit meinen Freundinnen wollte ich es feiern –

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