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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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und mit dir. Du wärst der einzige Mann gewesen. Und wir Damen alle in den schönsten Farben: weiß wie die Lilie, gelb wie die Tulpe, rot wie die Rose. Und du mittendrin. Hättest dir die schönste Blume von allen pflücken können. Ja, da staunst du, was? ›Das ist Markus Bäcker‹, hätte ich gesagt. Und dann: ›Soll er zugreifen und glücklich werden mit der schönsten Blume von uns allen.‹ Tja, so wäre das gewesen. Nun aber musst du mit mir allein vorliebnehmen. Hoffe, das ist nicht allzu schlimm.«
    Ganz und gar nicht, wollte ich schon sagen und spürte mein Herz wieder so heftig klopfen wie beim Öffnen ihrer Briefe. Aber ich sagte nichts.
    »Willst du nicht wissen, warum wir uns hier auf diesem Friedhof treffen?« Carola zündete sich, ohne stehen zu bleiben, eine neue Zigarette an.
    »Doch, ja, will ich, will ich schon wissen.«
    »Na gut, wenn du’s wissen willst, verrat ich’s dir: Es ist eine Reminiszenz. Eine Reminiszenz an alte Zeiten.« Erst jetzt blieb sie stehen und schaute mich eindringlichan, während ich mich fragte, was das Wort »Reminiszenz« bedeutet. »Und deshalb«, fuhr sie fort, »musst du Folgendes wissen: Unser Leben soll nicht mehr auf Friedhöfen stattfinden. Dazu sind wir zu jung. Wir sollten einen Schlussstrich ziehen, neu anfangen, alles hinter uns lassen. Deshalb hab ich dich auf einen Friedhof eingeladen. Damit wir ihn gemeinsam verlassen. Und zwar jetzt! Diesen Ort der Vergangenheit, schnurstracks verlassen wir den, ein für allemal. Das ist, wenn wir das jetzt machen, nicht nur eine tatsächliche, sondern vor allem eine symbolische Handlung. Ja, das ist es, verstehst du? Nie mehr Friedhof!«
    Ich konnte es kaum fassen: Sie hatte uns gesagt, und wir hatte sie gesagt. Das konnte doch nur bedeuten, dass sie mich damit meinte. Sie steuerte in die vom Krankenhaus entgegengesetzte Richtung auf die Friedhofsmauer zu. Ich folgte ihr. Sie stieg auf einen Grabstein, von dem Grabstein auf die Mauer und reichte mir ihre Hand, damit ich schnell nachkommen konnte. Hand in Hand sprangen wir auf der anderen Seite hinunter. Jetzt erst nahm sie ihre Zigarette aus dem Mund. »Willst du eigentlich nicht wissen, was Reminiszenz bedeutet? Ich hab dir nämlich angesehen, dass du das Wort nicht kennst.«
    »Das würde ich gern«, antwortete ich. »Und auch dieses andere Wort.«
    »Du meinst: Konspirativität.« Sie betonte jede Silbe und lächelte. »Es ist nichts anderes als ein Schutz: Wenn ich mich mit meinen Eltern treffe, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, nicht öfter, verwende ich so viele Fremdwörter wie möglich. Sie sind zwar Funktionäre, aber Fremdwörter kennen sie nicht. Außer ›Dialektik‹oder ›Manifest‹. Was das bedeutet, haben sie auswendig gelernt. Auf ihren Funktionärsschulungen. Da sie nicht fragen, wenn sie was nicht verstehen, weil sie arrogant sind und borniert obendrein, verebbt unsere Kommunikation, noch bevor sie überhaupt begonnen hat. Das Wort ›Kommunikation‹ wirst du ja wohl kennen. Es bedeutet: Gesprächsaustausch, Verständigung. Ganz einfach, oder?«
    Ich erinnerte mich, wie Carolas Mutter mir gegenüber von »kooperativer Zusammenarbeit« gesprochen hatte, als ich ihr verraten sollte, wo Nilowsky ist. Ich wollte Carola fragen, ob »kooperativ« denn kein Fremdwort für sie sei, doch in diesem Moment nahm sie wieder meine Hand, und die Frage war mir nicht mehr wichtig. Wir bogen in die Klement-Gottwald-Allee ein und von dort in die Pistoriusstraße. Ich ging davon aus, dass Carola durch meine Hand hindurch meinen Herzschlag spürte. Dass sie kein Wort darüber verlor, löste bei mir Vertrauen aus. Ich hätte ewig so gehen wollen.
    Plötzlich blieb sie stehen und grinste mir schadenfroh ins Gesicht. »Wenn Reiner aus ’m Knast raus ist, kann ich meine Fremdwortaffinität an den Nagel hängen, verstehst du, wie ich das meine? Ich werde meine Eltern nie mehr sehen, denn sie werden Reiner meiden wie der Teufel das Weihwasser, so viel steht fest. Nach dieser Gerichtsverhandlung, bei der er ihnen eine Wahnsinnsangst eingejagt hat. Toll, wie er das gemacht hat. Logisch, absolut logisch, dass ich sie nie mehr sehen werde.«
    Logisch, dachte ich, dass sie mit Reiner zusammen sein wird. Ganz klar und eindeutig, so wie sie das gesagt hatte. Logisch also, dass ich nicht in sie verliebt seindurfte. Ich spürte, wie dieser Gedanke mir die Kehle zuschnürte. Wie meine Hände feucht wurden und zugleich verkrampften.
    »Ich hab einen Brief für dich«, fuhr Carola

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