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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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überlegte, was ich sagen konnte, um Reiner aufzumuntern. Aber mir fiel nichts ein.
    »Wie geht’s dir?«, fragte er schließlich. »Du müsstest ja bald anfangen zu studieren, oder?«
    Der sachliche Ton seiner Frage verstärkte nur meine Hilflosigkeit. »Ja«, antwortete ich in gleicher Art. »Im Oktober. Pädagogik, Fachgebiete Mathematik und Physik.«
    »Na, da wollen wir doch mal sehen, wie pädagogisch du bist, wenn’s jetzt mal was Anständiges zu trinken gibt. Wollen wir mal sehen.«
    Er lachte laut, während ich mich fragte, was denn in diesem Falle das Pädagogische mit dem Trinken zu tun habe. Er holte eine Flasche Himbeergeist aus der Kommode, goss zwei Weingläser voll, reichte mir eines und trank seines in einem Zug aus.
    »Weißt du eigentlich, wie ich meine Fliege im Knast beerdigt hab?«
    »Nein, erzähl!«, antwortete ich mit einem überschwänglichen Interesse, das ihm Freude bereiten sollte, und nahm einen Schluck Himbeergeist.
    Er boxte mir gegen den Oberarm. »Na, musst nicht gleich übertreiben mit deiner Anteilnahme.« Er lachteerneut, goss sich sein Glas wieder voll, trank es aus und fing an: »Ich wollte sie natürlich konservieren, so wie Wladimir Iljitsch Lenin konserviert wurde, wenn du verstehst, was ich meine. Da ich meiner Fliege ohne Flügel aber nicht mit ’nem Mausoleum dienen konnte, fragte ich beim Knastchef, ob ich hochprozentigen Schnaps haben dürfe, in den ich sie hineintun könne. Der Knastchef fragte, wie ich denn garantieren könne, dass ich den Schnaps nicht aussaufe. Ich sagte, ich gebe mein Ehrenwort. Der Knastchef überlegte kurz, dann fragte er: ›Welcher Schnaps soll’s denn sein?‹ Und ich: ›Na, wenn Sie mich so fragen, würde ich mal sagen: Himbeergeist.‹ Der Knastchef: ›Besorg ich Ihnen.‹ Am nächsten Tag hatte ich ’ne Flasche. Und hier ist sie!«
    Nilowsky stellte die Flasche vor mir auf den Tisch. Auf ihrem Boden schaukelte die tote flügellose Fliege hin und her. Sie war derart aufgedunsen, dass ich den Eindruck hatte, sie könnte jeden Moment platzen.
    Ich spürte einen Brechreiz in mir aufkommen. Um mich von ihm abzulenken, stellte ich mir vor, wie ein wenig von dem guten, vertrauensvollen Karma von der Fliege in den Himbeergeist und vom Himbeergeist in Nilowsky und auch in mich, der ich einen kleinen Schluck genommen hatte, übergegangen war.
    »Du musst wissen«, sagte Nilowsky, »sie war schon von den Überresten der totgeschlagenen Fliegen in meiner Zelle, die sie genüsslich gefressen hatte, dick und fett geworden. Aber der gute Himbeergeist hat sie noch weiter aufquellen lassen.«
    Ich nahm meinen Blick von der toten Fliege weg, doch der Brechreiz wurde nur noch stärker. Es kann doch nicht sein, dachte ich, dass ich, wenn ich mit Reinerzusammen bin, immer wieder kotzen muss. Plötzlich hielt er mir die Soßenschüssel vor den Mund. »Tu dir keinen Zwang an. Na los, lass es raus!«
    Das war wie ein Kommando. Nein, sagte ich mir. Ich werde nicht kotzen vor ihm, nie mehr. Ich befahl es mir regelrecht.
    »Na los, genier dich nicht!«, forderte er. »Aber pass auf, dass nichts danebengeht. Carola macht mich zur Schnecke, wenn auch nur ein Krümelchen danebengeht.«
    »Muss nicht kotzen«, log ich und stand auf, um nicht mehr in die Soßenschüssel zu starren, die mir Nilowsky immer noch hinhielt.
    »Dir ist’s nur peinlich vor mir«, meinte er. »Dabei seh’ ich als Kellner jeden Abend irgendwelche Suffköppe kotzen. Gewöhnt man sich dran, so wie man sich dran gewöhnt, dass jeden Morgen die Nacht vorbei ist. Außerdem dachte ich, dass wir Freunde sind, dachte ich. Na, nichts für ungut.« Er stellte die Schüssel zurück auf den Tisch und nahm einen Schluck aus der Flasche mit der toten Fliege. »Bist blass wie ’ne Kalkwand. Leg dich hin, bevor du umkippst!«
    Er deutete mit dem Kopf zum Kanapee. Mir war es recht, nicht mehr so dicht bei ihm und dem Schnaps zu sein. Ich ging die paar Schritte und legte mich hin. Aus Furcht, mich doch noch übergeben zu müssen, versuchte ich, nicht auf die Blutflecken zu achten. Ich schloss die Augen und hörte Nilowsky einen großen Schluck trinken und laut ausatmen. Nur ausruhen, dachte ich, und dann nach Hause. Bloß nicht einschlafen.
    »Weißt du eigentlich«, sagte er, »dass die Inder nicht nur Tantra erfunden haben und an die Reinkarnationglauben, sondern auch Verehrer des Hakenkreuzes sind?« Er machte eine Pause, um, wie mir schien, meine Überraschung auszukosten, aber ich zeigte keine
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