Nimm doch einfach mich
angeschaut hatte. Aber ihre Mutter schien es tatsächlich ernst zu meinen. Verflucht! Hieß das etwa, dass sie nach Paris umziehen sollte, damit ihre Mutter im französischen Fernsehen ihr vermeintliches Comeback feiern konnte?
»Ich bleibe hier«, sagte Jack schlicht.
»Aber das geht nicht, chérie . Du und ich, wir sind ein Team. Du kannst mich jetzt unmöglich im Stich lassen. Außerdem ist das erst der Anfang für uns«, trällerte Vivienne mit leuchtenden Augen. Sie tänzelte zum Fenster und nahm ein Foto in einem silbernen Tiffany-Rahmen vom Sims, auf dem sie als Primaballerina an der Pariser Oper zu sehen war. Jack hätte ihr das Ding am liebsten aus der Hand gerissen und auf dem Boden zerschmet tert. Konnte ihre Mutter vielleicht ein bisschen weniger von sich selbst besessen sein? Wenn sie auch nur eine Sekunde nachdenken würde, müsste sie doch begreifen, dass sie das Leben ihrer einzigen Tochter ruinierte !
»Das kannst du mir nicht antun!« Jack hatte Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten. »Was ist mit mir?« Sie hörte sich wie eine drittklassige Schauspielerin in einem unterirdisch schlechten Reality-TV-Drama an. Wenn sie so weitermachte, würde man ihr womöglich noch anbieten, neben ihrer Mutter in dieser unsäglichen Show mitzuspielen, von der sie keine Ahnung hatte, wie sie überhaupt hieß.
Les completement Durchgeknallten?
»Es ist ganz natürlich, dass du rebellierst, c'est la folie des jeunes .« Vivienne vollführte eine überhebliche Geste, wobei die Asche ihrer Zigarette auf den abgewetzten Dielenboden rieselte. Dann stellte sie sich hinter ihre Tochter und schlang ihre dürren Arme um sie.
Jack versteifte sich und machte keine Anstalten, die Umarmung zu erwidern. Ihre Mutter sollte noch nicht einmal für eine Nanosekunde das Gefühl haben, sie würde der ganzen Sache zustimmen.
»Dein Leben fängt doch gerade erst an, chérie «, säuselte Vivienne ihr ins Ohr. »Wir fliegen am Sonntag - nous de vons preparer nos affaires !« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, eilte sie in den Flur, riss einen Chinchillamantel aus dem Schrank und hüllte ihren mageren Körper darin ein.
Jack stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Tränen der Wut rannen über ihr Gesicht, die sie mit dem Handrücken wegwischte, bevor sie nach ihrem Treo griff und über die Kurzwahltaste 1 J.P.s Nummer wählte.
»Ich komme doch zu dir«, sagte sie kurz. Aufs Tanzen würde sie sich heute Nachmittag niemals konzentrieren können. Sie brauchte eine andere Art körperlicher Betätigung, um sich von allem abzulenken. Hektisch zog sie ihre Lieblings-Skinny-Jeans von Citizen und einen grauen Theory-Sweater aus dem Schrank und stopfte beides in ihre Tasche. Dann öffnete sie die Unterwäscheschublade ihrer Kommode und kramte ein rosa Spitzenhöschen von Cosabella und einen schwarzen La-Perla-BH heraus. Sie runzelte die Stirn. War die Farbkombination zu sehr »besorg's mir«? Sie kaufte sich immer sexy Unterwäsche, hatte sich aber bis jetzt noch nie für J.P. ausgezogen.
Es gibt für alles ein erstes Mal …
Die ersten Takte von »Non, je ne regrette rien« – Viviennes Lieblingslied von Edith Piaf – wehten durch die geschlossene Tür. Normalerweise hörte ihre Mutter dieses Chanson nur, wenn sie schon eine ganze Flasche Wein intus hatte. In diesem Zustand wollte Jack nichts mit ihr zu tun haben. Sie hatte keine Zeit, nachzudenken – sie musste dringend raus hier. Hastig steckte sie die Unterwäsche in die Tasche, stürmte aus dem Zimmer und raste, ohne sich von ihrer Mutter zu verabschieden, die Treppe hinunter. Sollte sie ruhig denken, dass sie davonlief. Vielleicht würde es ihr dann leidtun.
Während sie in der hereinbrechenden Dunkelheit Richtung Uptown eilte, dachte sie an Paris. Sie hatte den Sommerkurs an der Ecole de Danse der Pariser Oper besucht – und ja, es war eine wunderschöne Stadt, aber es war nicht New York . Wütend kramte sie nach ihren Merits und ihrem Tiffany-Zippo. Das hier war schließlich ein Notfall. Außerdem – warum sollte sie ausgerechnet jetzt mit dem Rauchen aufhören? In Frankreich rauchte verdammt noch mal jeder.
Es gibt immer einen Silberstreif am Horizont. Und wenn er noch so verqualmt ist.
auf liebeskummer folgt oft legasthenie
Rhys Sterling stand etwas abseits vom Becken in der Schwimmhalle des YMCA auf der 92. Straße. Er trug immer noch seine St.-Jude-Schuluniform samt Blazer, konnte keinen klaren Gedanken fassen und fürchtete, jeden Moment
Weitere Kostenlose Bücher