Nimm doch einfach mich
als hätte sie vergessen, eine Hose anzuziehen.
»Drunkorexia und zerrüttete Ehen.« Ticky lachte abfällig. »Haben Sie das aus einer Ihrer alten Hausarbeiten für die Uni? Verstehen Sie das unter zeitgemäßem Hochglanz-Journalismus? Mein Gott, die ganze Stadt ist drun korektisch. Drunkorexia ist meine Erfindung. Das ist nicht neu. Das ist nicht Metropolitan .« Ticky stemmte sich wü tend aus ihrem Sessel empor. McKenna sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl fast umgekippt wäre, während die anderen am Tisch so taten, als wären sie in die Redaktionspläne vertieft.
»Glauben Sie, dass es das ist, was wir brauchen? Nein! Wir brauchen Glamour!«, wetterte Ticky und blieb zwei Schritte vor Avery stehen, um sich dann wieder zum Konferenztisch umzudrehen. »Wir brauchen Themen, die faszinieren und unsere Leser daran erinnern, dass Manhattan immer noch das Zentrum der Welt ist. Manhattan . Nicht Brooklyn oder Queens oder das gottverdammte Philadelphia«, dozierte Ticky. Sie klang verärgert, aber Avery meinte auch eine leise Wehmut in ihrer Stimme zu hören. Sie konnte das gut nachvollziehen. Sie war mit den Fotoalben und Geschichten ihrer Großmutter groß geworden. Seit sie hierhergezogen war, suchte sie nach einem New York, das nicht mehr zu existieren schien: einer Stadt, in der rauschende Ballnächte gefeiert wurden, wo man in Ein ladungen förmlich ertrank und als kultivierte Dame der Gesellschaft eine Schar männlicher Verehrer hatte, die nur darauf warteten, einen im Sturm zu erobern.
Sucht sie vielleicht auch nach einer Zeitmaschine, die sie ins Jahr 1897 zurückbefördert?
»Was ist mit dieser Kampagne für die neuen Cashman-Lofts? Das Mädchen, das gerade überall auf den Plakaten zu sehen ist, wie heißt sie – Jaqueline Laurent? Sie ist, glaube ich, erst sechzehn, treibt sich aber praktisch jede Nacht in den angesagtesten Szenelokalen herum und ist wirklich absolut hinreißend. Die nächste Tinsley Mortimer«, schlug Franny Abramson, die ganz in Prada gehüllte Chefredakteurin mit Modelmaßen, vor. Avery kannte sie von ihrer »Frag Franny«-Kolumne – die zwar zugegebenermaßen einen ziemlich bescheuerten Namen trug, aber extrem bissig und treffend war und die Leserinnen mit reichlich praktischen Tipps versorgte: zum Beispiel wie man Austern aß, ohne dabei obszön auszusehen, oder wie man einen gesellschaftlichen Emporkömmling loswurde, der es offensichtlich nur darauf anlegte, kostenlos im Privatjet mitzufliegen. Franny sah Ticky mit einer kühl hoch gezogenen Braue an, als wollte sie sagen: Wag es bloß nicht, meinen Vorschlag abzuschmettern. »Sie ist noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt und deshalb die ideale Story für uns. Die Kleine ist New Yorkerin, hat einen wohl habenden Vater, ihre Mutter war früher eine berühmte Pariser Tänzerin und ihr Freund ist der Sohn von Dick Cashman – das würde eine Menge Stoff liefern«, fuhr Franny ruhig fort.
Avery warf Ticky einen Blick zu und hoffte inständig, sie würde den Kopf schütteln oder die Augen verdrehen. Aber nein. Ticky war mittlerweile an ihren Platz zurückgestöckelt und ihre Augen leuchteten begeistert. Avery hätte vor Enttäuschung am liebsten laut geschrien. Sie war kurz davor, aufzuspringen und in ihr provisorisches Büro in der Teeküche zurückzustürmen, damit sie nicht mit anhören musste, wie Jack Laurent noch höher in den Himmel gelobt wurde.
»Ist sie nicht noch ein bisschen jung?«, fragte Ticky schließlich.
Ja, ja, ja! , schrie Avery stumm, während ein paar der Redakteure höflich lachten.
»Aber sie ist einfach hinreißend. Eine klassische Schönheit. Ganz anders als die üblichen hirnlosen It-Girls«, wischte Cheryl Katz, die rothaarige Beauty-Redakteurin, Tickys Bedenken vom Tisch – und Averys Hoffnungen in die Mülltonne.
Ein Mann in einer unglaublich engen schwarzen Hose und einem makellos gebügelten kurzärmligen weißen Hemd mit karierter Fliege hüpfte vor Aufregung fast von seinem Stuhl.
»Ja, Yves?« Ticky nickte ihm mit geschürzten Lippen zu.
»Die Idee ist fantastisch! Denken Sie allein an das Shooting, meine Liebe – wir könnten das alte glamouröse New York heraufbeschwören! Zuerst zeigen wir die Kleine in ihrer herrschaftlichen Stadtvilla … und dann - Päng - das New York von heute: die Cashman-Lofts im neuen Öko-Chic, alles ultramodern und politisch korrekt. Uns sind praktisch keine Grenzen gesetzt.«
Avery grinste verstohlen in sich hinein. Wenn das so war, dann konnte sie es kaum
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