Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
mit der Wimper zu zucken – denn sie hatten gar keine andere Wahl. Nicht, solange Sharleyan, Cayleb und ihre Verbündeten Zeugen wurden, wie Hunderttausende von Menschen in der nördlichen Siddarmark Hungers starben.
»Das sind alles erfahrene Leute«, wiederholte Sharleyan. »Die wissen, wie um diese Jahreszeit die Wetterverhältnisse sind. Dank deiner Anweisungen wissen sie auch, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«
»Es gibt einen Unterschied zu wissen, wie um diese Jahreszeit das Wetter ist, und zu wissen, dass man geradewegs in einen der schlimmsten Stürme der letzten zwanzig Jahre hineinfährt.« Caylebs Stimme war ebenso grimmig wie seine Miene. »Wir werden zumindest ein paar dieser Schiffe verlieren, Sharley, keine Frage.«
»Vielleicht seid Ihr da ein bisschen übermäßig pessimistisch«, drang eine Stimme aus den unauffälligen, durchsichtigen Ohrhörern, die sie beide trugen. »Ich verstehe Euch, ja. Aber wir sollten uns nicht jetzt schon schuldig fühlen. Wir sollten damit warten, bis es einen echten Grund dafür gibt, Cayleb.«
»Ich hätte den Aufbruch hinauszögern sollen. Nur drei oder vier Tage – vielleicht auch einen ganzen Fünftag. Gerade lange genug, bis der Sturm sich aus dem Amboss verzogen hat.«
»Und wie, Cayleb, hättest du das erklären wollen?«, erkundigte sich Sharleyan leise. »Sicher, wir können Wetterfronten verfolgen – willst du den anderen vielleicht erklären, wie wir das hinbekommen? Und wie sollten wir ohne jegliche Erklärung rechtfertigen, den Transport der Nahrungsmittel zu verzögern, wo doch zumindest diesseits von Chisholm jeder im ganzen Reich weiß, wie dringend sie gebraucht werden?«
»Genau«, sagte nun auch Merlin Athrawes über die Ohrhörer, »die Lebensmittel werden wirklich dringend benötigt. Ich sage das ungern, aber die Männer, die wir wegen Wind und Wetter verlieren könnten, wiegen die, die wir vor dem Hungertod bewahren können, mehr als auf. Und«, nun klang seine tiefe Stimme sehr sanft, »sind die Leben charisianischer Matrosen wertvoller als die Leben all der Kinder, die in der Siddarmark verhungern? Vor allem, wenn einige dieser Kinder selbst Charisianer sind? Ihr mögt der Kaiser sein, aber Ihr seid nicht Gott. Habt Ihr das Recht, den Aufbruch der Schiffe zu verzögern? Habt Ihr das Recht, den Männern zu befehlen, ihr eigenes Leben nicht zu riskieren? Stellt diesen Männern die Frage, ob sie trotz des sicheren Wissen, in den schlimmsten aller Stürme im Amboss hineinzufahren, aufbrechen wollen! Was denkt Ihr wohl werden sie antworten, wo sie doch wissen, wie dringend ihre Fracht benötigt wird? Menschen haben schon aus deutlich schlechteren Gründen ungleich größere Risiken auf sich genommen.«
»Aber die Besatzungen hatten doch überhaupt keine Wahl. Sie …«
Cayleb verbiss sich den Rest des Satzes und machte eine zornige, abgehackte Handbewegung. Sharleyan seufzte, schmiegte sich an die Brust ihres Gemahls und schlang beide Arme um ihn. Einige Augenblicke blieben sie schweigend so stehen. Dann holte Cayleb tief Luft und wandte sich entschlossen vom Blick auf die Rechtecke und Dreiecke aus Segeltuch ab, die kleiner und kleiner wurden.
Sich abwenden vom Fenster und vor einem hochgewachsenen Mann mit silbergrauem Haar stehen, war eins. Der Mann hatte einen beeindruckenden Bart und auffallend große, sehnige Hände. Er trug eine weiße Soutane, deren Saum orange eingefasst war. Auch das schwalbenschwanzförmige Band, das von seiner Priesterhaube herabhing, war in leuchtendem Orange. An der linken Hand des Mannes glitzerte ein großer Rubin: das Zeichen der Bischofswürde.
»Mir ist aufgefallen, dass Ihnen meine düstere Stimmung keine Bemerkung entlockt hat«, meinte der Kaiser, und der hochrangige Priester lächelte.
»Ich kenne Euch schon, seit Ihr ein kleiner Junge wart, Cayleb«, erwiderte Erzbischof Maikel Staynair. »Im Gegensatz zu Sharley und Merlin habe ich schon vor langer Zeit gelernt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, mit Euren Selbstvorwürfen umzugehen: Man muss abwarten, bis es vorbei ist. Letztendlich begreift auch Ihr, dass Ihr mit Euch selbst härter ins Gericht geht als mit anderen. Bis es so weit ist, kann man seine Zeit deutlich sinnvoller nutzen.«
»Sie haben immer so viel Mitgefühl und wissen mich stets so gut zu unterstützen, wenn ich Ihre Hilfe brauche, Eure Eminenz«, bemerkte Cayleb sarkastisch, was Staynair zum Lächeln brachte.
»Wäre es Euch lieber, wenn ich Euch traurig anblickte
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