Nina, so gefällst Du mir
aufraffen, irgend etwas zu beginnen. Und das schlimmste von allem war, daß sie ein chronisches Mitleid mit sich selber empfand.
„Sorgen Sie dafür, daß das Kind wegkommt“, sagte der Arzt vertraulich zu Herrn Löge. „Weg, in neue Umgebung! Irgend wohin, wo sie mit fröhlichen jungen Menschen zusammen ist.“
„Sie will nicht“, seufzte Löge.
„Was heißt hier wollen? Nach ihrem Willen wird sie nicht gefragt, sie muß.“
Aber bei Nina zu Haus war von jeher nach ihrem Willen gefragt worden, und nun wollte sie also in Lillevik bleiben.
„Mach doch einen Spaziergang in dem herrlichen Sonnenschein“, sagte die Mutter. „Dann bekommst du sicher Appetit, du sollst mal sehen.“
„Ich habe keine Lust“, sagte Nina.
„Ach nein“ – „Ich habe keine Lust“ – „Ich bin nicht in Stimmung“ – das waren die einzigen Antworten, die Nina auf jeden Vorschlag gab.
Allmählich brachte sie die Eltern zur Verzweiflung. Martin Löge begann ärgerlich zu werden.
„Wir haben uns das selbst eingebrockt“, brummte er, „weil wir sie nach Noten verwöhnt haben. Haue sollte sie haben, die kleine launische Person!“
„Ja, das würde sicher glänzend helfen“, lächelte Frau Löge matt. „Nein, Martin, gewiß ist Ninas trübselige Stimmung schrecklich genug, aber für sie im Grunde am schlimmsten.“ Das stimmte. Nina erwachte jeden Morgen mit schwerem Herzen und in schlechter Laune. Sie war bis an den Rand mit Weltschmerz und Mitleid mit sich selber angefüllt.
„Nina, würdest du bitte für mich auf die Post gehen und Marken holen?“ bat die Mutter eines Tages.
„Ja, das kann ich gern tun.“ Nina ging durch die stillen, sonnbeschienenen Straßen. In Lillevik begann es, Sommer zu werden, und über der sauberen kleinen Stadt lag ein Duft von Meer und Tang und Fisch. Dann stand Nina vor einem der drei Schalter auf dem Postamt von Lillevik.
„Ich möchte gern… Aber, liebe Zeit! Wie kommst du denn hierher?“
Hinter dem Schalter lächelte Kirsten Roeds Gesicht ihr entgegen. „Sommervertretung. Wie nett, dich wiederzusehen, Nina. Du bist ja lange krank gewesen. Jetzt geht es doch hoffentlich besser?“
„Ach ja, aber es dauert eben seine Zeit, bis man wieder auf dem Posten ist, weißt du…“
„Ja, das ist klar. Und was möchtest du, Nina? Ich bin bei der Post, wie du siehst – das heißt, das einzige, was mir anvertraut ist, sind die Briefmarken und Umadressierungen. Wenn du in Ferien gehst, dann mußt du deine neue Adresse bei mir hinterlegen, verstehst du?“
„Zunächst möchte ich aber nur ein Heftchen Briefmarken haben.“
„Hier bitte. Ach, übrigens: Wie findest du das mit Gunnar Wigdahl? Hat der nicht ein unerhörtes Glück?“ Die alte Unruhe erfaßte Nina von neuem.
„Wieso denn Glück? Ist er etwa nach Afrika gefahren oder…?“
„Ach wo! Die Reise ist sicher so anstrengend, daß er erst mal Kräfte sammeln muß. Und das tut er im Augenblick im Hochgebirgshotel ‚Blaufall’. Unter dem macht er’s nicht.“
„Blaufall! Ist das nicht das neue…?“
„Ja, ja, aus dem vorigen Jahr. Ein riesiges Luxushotel, ganz toll sage ich dir. Nein, ich bin noch nicht dagewesen. Hast du eine Ahnung! – Man muß mindestens einen Millionär zum Vater haben oder einen Gummistiefel fabrikanten zum Onkel, wenn man dorthin fährt. Niedrigster Preis sechzig Kronen am Tag. Nein, aber ich habe darüber gelesen, als das Hotel im vorigen Jahr eröffnet wurde. Ja, ja, hier ist ein Brief von Gunnar Wigdahl angekommen. An mich nicht, sondern ans Postamt. Aber er ist mir ausgehändigt worden, und ich muß ihm alle Post nach ‚Blaufall’ nachschicken. Ja, wenn der es nicht gut hat, dann weiß ich wirklich nicht. Entschuldige, Nina, aber jetzt muß ich leider…“
Ein neuer Kunde stand vor dem Schalter, und Nina nickte Kirsten zum Abschied zu.
Das Hochgebirgshotel „Blaufall“! Natürlich hatte sie darüber gelesen. Wie war es eigentlich – Tennisplätze, Bar, Schwimmhalle, Minigolf, Autostraße bis ganz nach oben, geheizte Garagen, Sauna, Telefon in allen Zimmern. Ja, danke bestens! Das wäre sicher das richtige für eine kleine Prokuristentochter aus Lillevik!
Auf dem Wege nach Haus kam sie an Lilleviks einzigem Reisebüro vorbei. Im Fenster hingen ein Plakat vom Hotel „Blaufall“ und eine Karte, auf der die Autostraße rot eingezeichnet war.
Ausgangspunkt Oslo – nur wenige Autostunden – das kleine Seitental hinauf über Sirili…
Mit einemmal schnappte Nina nach
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