Ninis - Die Wiege der Baeume
Tiefe
Mit unzähligen Flügelschlägen brummten Leuchtkäfer leise unter der Decke, sie gaben dem Gewölbe aber nur ein äußerst spärliches Licht. Yirmesa stand weit unter der Oberfläche des Berges und bewunderte ihre Entdeckung. Wie lange wohl niemand mehr hier gewesen war? Den Mauern war ihr Alter deutlich anzusehen, den Zerfall konnten sie nicht mehr leugnen. Wo war sie nur gelandet?
Mit gestreckten Armen fehlte ihr nur eine Handbreit, um die Decke zu erreichen. Zu ihrer rechten Seite lagen Schutt und schwarze Erde, die von ihrem unfreiwilligen Eintritt nachgerutscht war. Linkerhand konnte sie keine Begrenzung des Raumes erkennen, das matte Licht und der Staub in der Luft ließen aber ohnehin keine weite Sicht zu. Den Boden bedeckte eine dicke Staubschicht, die jeden ihrer Schritte wie ein stummer Zeuge festhielt.
Sie ging langsam weiter und erkannte, dass sie in einen Korridor eingedrungen war. Alles bestand aus denselben gleichmäßig behauenen, armlangen Quadern. Angestrengt versuchte sie sich an Geschichten zu erinnern, die vielleicht Levinie oder jemand der Älteren früher erzählt hatten - ihr fiel aber nichts ein. Anscheinend wusste niemand, welches Geheimnis der Jabari hier hütete. Ihr Volk benutzte keine Steine, um Wohnstätten zu errichten, umso neugieriger untersuchte sie die Quader vor ihr. Sie erblickte unbekannte Schriftzeichen und fuhr die Einkerbungen mit dem Finger nach. Die Steine waren handwarm, wie eine Spur leuchteten die Runen dort nach, wo ihre Fingerkuppen sie berührten. Als ob die Steine erwachten, glimmten die Runen auch an anderen Stellen auf – sie lächelte bei dem Schauspiel, wenngleich ihr die Bedeutung der Schrift verschlossen blieb.
„Was ist das? Was diese Schrift wohl bedeutet? Sie ist wunderschön.”
Zuerst war es kaum zu erkennen, aber je weiter sie dem Gang folgte, je deutlicher setzten sich die Runen von den Quadern ab. Wie mit einem in rote Farbe getauchten Finger waren die Schriftzeichen auf die Steine gemalt.
Yirmesa folgte dem Gang. Die schwarze Erde hatte an einigen Stellen die Steine in den Korridor gedrückt, halb verschüttet, wehrte sich das Gemäuer kaum noch gegen den weiteren Verfall. Sie zog den Kopf ein, verscheuchte die Leuchtkäfer und setzte ihre Erkundung fort. Sie wollte jetzt wissen, wohin der Weg führte. Angst in der Tiefe verschüttet zu sein empfand sie nicht mehr, wissbegierig blickte sie um jede Ecke, folgte jeder Treppe, die sie weiter nach unten führte.
„Unglaublich … was habe ich nur gefunden?”
An Verzweigungen stoppte sie und ließ die Hieroglyphen auf sich wirken. Die Schriftzeichen pulsierten unregelmäßig, sie sahen beinahe lebendig aus. Yirmesa wählte jeweils die Richtung, bei der die Runen auf den Quadern behaglicher schienen. Die Luft wurde wärmer und sie konnte, noch weit entfernt, Geräusche wahrnehmen. Es roch nach warmem Stein, nach Staub und Metall. Sie hörte ein Klopfen, ein Zischen und das dumpfe Krachen massiver Steinplatten, die langsam aufeinanderschlugen. Je weiter sie ging, je deutlicher konnte sie das Getöse vernehmen. Sie lief schneller, jetzt wollte sie genau wissen, was sich hier verbarg.
Yirmesa blieb plötzlich stehen – dass sie hier unten nicht alleine war, erschien ihr, bei den Geräuschen, einleuchtend. Nur musste sie mit Schrecken erkennen, dass sie nicht die erste Lamenis war, die diesen Gang durchquerte. Wenige Längen vor ihr lag das Skelett einer Wächterin, deren verstaubte Rüstung und Kampfstab einfach zu zuerkennen waren. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
„Ich wäre dir gerne zu anderen Zeiten begegnet.” Sie blieb stehen und schluckte. „Bitte entschuldige meinen Diebstahl. Ich brauche deine Sachen.” Sie nahm Stiefel, Lederharnisch sowie Armschienen und den Kampfstab der Toten. An den Knochen der toten Lamenis sah sie keine Verletzungen oder Spuren, die auf einen Kampf oder Sturz deuteten.
„Wie hast du hier hergefunden? Und vor allem, was hat dich getötet?”
Sie konnte nichts erkennen, was den Tod der Wächterin hätte erklären können. Vorsichtig legte sie ihr zerschlissenes Lederkleid über den Kopf der Toten. Sie schwieg und blieb eine Weile neben ihr stehen.
„Ich wünsche dir, dass du Frieden gefunden hast”, flüsterte sie. „Meine Zeit ist aber noch nicht gekommen.” Und ging weiter. Die Rüstung der toten Wächterin war staubig, zwickte und roch moderig, aber Yirmesa hatte nun wieder passende Kleidung und eine Waffe.
Es folgten viele weitere
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