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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Wellblech und selbst das Hauptgebäude mit seinen dicken Säulen erschienen Regina kleiner und in ihrer Vertrautheit bereits freundlicher als noch am Vortag.
    Obwohl sie wußte, daß sie ihren Kopf nur mit Fantasie fütterte, stellte sich Regina vor, sie könnte das Fenster von Mr. Brindleys Zimmer und ihn selbst eine Fahne aus weißen Taschentüchern schwenken sehen. Sie hatte schon seit vielen beunruhigenden Monaten gewußt, daß sie ihn vermissen würde, aber sie hatte nicht geahnt, daß ihre Sehnsucht sich ebensowe-nig Zeit zum Wachsen nehmen würde wie der Flachs nach der ersten Nacht des großen Regens. Der Direktor hatte sie am letzten Tag vor den Ferien noch einmal holen lassen. Er hatte nicht viel gesagt und Regina angeschaut, als suche er nach einem bestimmten Wort, das ihm abhanden gekommen war. Es war ihr Mund gewesen, der nichts halten konnte. Regina wurde es wieder heiß, wenn sie nur daran dachte, wie sie die schöne Stille erschlagen und gestottert hatte: »Ich danke Ihnen, Sir, ich danke Ihnen für alles.«
    »Vergiß nichts«, hatte Mr. Brindley gesagt und dabei ausgesehen, als müßte er und nicht sie auf die Safari ohne Wiederkehr gehen. Dann hatte er noch »Little Nell« gemurmelt. Und sie hatte schnell, weil ihr das Schlucken schon schwerfiel: »Ich werde nichts vergessen, Sir«, geantwortet. Ohne daß sie es eigentlich wollte, hatte sie »No, Mr. Dickens«, hinzugefügt. Sie hatten beide gelacht und sich auch zu gleicher Zeit räuspern müssen. Mr. Brindley, der immer noch keine weinenden Kinder mochte, hatte zum Glück nicht gemerkt, daß Regina Tränen in den Augen hatte.
    Die Gewißheit, daß es fortan weder Mr. Brindley noch überhaupt einen Menschen geben würde, der Nicholas Nickleby, die kleine Dorrit oder Bob Cratchitt und ganz bestimmt nicht Little Nell kannte, kratzte in der Kehle wie ein versehentlich verschluckter Hühnerknochen. Es war das gleiche Gefühl, das im Kopf trommelte, wenn Regina an Martin dachte. Sein Name fiel ihr zu plötzlich ein. Er hatte kaum ihre Ohren erreicht, als der Nebel vor ihren Augen Löcher bekam, aus denen kleine, gut geschärfte Pfeile abgeschossen wurden.
    Zu deutlich erinnerte sich Regina, wie Martin in Uniform sie von der Schule abgeholt hatte und wie sie beide im Jeep zur Farm gefahren waren und kurz vor dem Ziel unter dem Baum gelegen hatten. Hatte sie damals oder später beschlossen, den verzauberten blonden Prinzen zu heiraten? Ob Martin noch an sein Versprechen dachte, auf sie zu warten? Ihres hatte sie gehalten und weinte nie, wenn sie an Ol' Joro Orok dachte. Jedenfalls keine Tränen.
    Die Erfahrung, daß eine große Trauer die Traurigkeit vor ihr fressen konnte, war Regina neu, aber nicht unangenehm. Der Zug schaukelte ihre Sinne in einen Zustand, in dem sie einzelne Worte zwar noch hörte, aber nicht mehr zu einem Satz zusammenfügte. Als sie gerade dabei war, Martin klarzumachen, daß sie nicht Regina hieß, sondern Little Nell, was Martin zu diesem wunderbaren Lachen brachte, das nach all der Zeit noch immer ihre Ohren wie Feuer brennen ließ, schnaufte der erste Waggon in Naivasha ein. Der Dampf von der Lokomotive hüllte das kleine hellgelbe Haus vom Stationmaster in einen feuchten, weißen Schleier. Selbst der Hibiskus an den Mauern verlor seine Farbe.
    Alte, abgemagerte Kikuyufrauen mit geblähtem Bauch unter weißen Tüchern, glanzlosen Augen und schweren Bananenstauden auf dem gekrümmten Rücken klopften an die Fenster. Ihre Nägel droschen den gleichen Klang wie Hagelstücke auf einem leeren Wassertank. Wollten die Frauen Geschäfte machen, mußten sie ihre Bananen verkaufen, ehe der Zug weiterfuhr. Sie flüsterten so beschwörend, als müßten sie eine Schlange von ihrer Beute ablenken. Regina machte eine weit ausholende Bewegung mit der rechten Hand, um anzudeuten, daß sie kein Geld hatte, aber die Frauen verstanden sie nicht. Da zog sie das Fenster herunter und rief ihnen laut auf Kikuyu zu: »Ich bin so arm wie ein Affe.«
    Die Frauen schlugen lachend die Arme vor die Brust und johlten wie die Männer, wenn sie nachts allein vor den Hütten saßen. Die Älteste, eine kleine, vom Klima und Leben gebeutelte Gestalt mit einem leuchtenden blauen Kopftuch und ohne einen einzigen Zahn, löste die Lederriemen an ihren Schultern, stellte die schwere Staude auf die Erde, riß eine große grüne  Banane heraus und hielt sie Regina hin.
    »Für den Affen«, sagte sie, und alle, die es hörten, lachten wie wiehernde Pferde. Die fünf

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