Nirgendwo in Afrika
hörten, wenn es nicht die eigene war. Walter hatte das immer wieder und in den meisten Fällen auch ohne Bewegung festgestellt, aber mit einem Mal erschien ihm die Sucht der Refugees, nicht aufzufallen, nicht mehr lächerlich, sondern ein beneidenswerter Beweis für ihr Talent, sich von der Vergangenheit zu lösen. Er aber war Außenseiter geblieben.
Auf dem Weg von seiner Baracke zur Messe im Haupthaus versuchte er noch, jener Melancholie zu entrinnen, die unweigerlich in einer Depression zu enden pflegte. Wie ein Kind, das seine Aufgaben auswendig lernt, ohne überhaupt nach dem Sinn zu suchen, sagte er sich immer wieder und zuweilen sogar laut, daß es ein glücklicher Tag für die Menschheit war. Trotzdem spürte er nur Leere und Erschöpfung. Mit einer Wehmut, die er sich als besonders törichte Sentimentalität verübelte, dachte Walter an den Kriegsanfang und wie Süßkind ihm vom Lastwagen aus die Internierung und den Abschied von Rongai gemeldet hatte.
Die Erinnerung steigerte in einem für sein Selbstbewußtsein kränkenden Tempo den Wunsch, endlich mal wieder mit Süßkind zu reden. Er hatte den Beschützer seiner ersten afrikanischen Tage lange nicht mehr gesehen, aber der Kontakt war nie abgerissen. Anders als Walter, der von der Army als zu alt für einen Fronteinsatz abgelehnt wurde, war Süßkind in den Fernen Osten geschickt und dort leicht verwundet worden. Nun war er in Eldoret stationiert. Sein letzter Brief war noch keine fünf Tage alt.
»Wahrscheinlich werden wir jetzt bald die herrliche Stellung bei King George verlieren«, hatte Süßkind geschrieben, »aber vielleicht verschafft er uns aus Dankbarkeit eine Arbeit, bei der wir wieder Nachbarn sind. Das ist ein großer König alten Kämpfern schuldig.« Was Süßkind als Scherz gemeint und Walter zunächst auch so verstanden hatte, erschien ihm an diesem einsamen Nachmittag des 8. Mai der unbarmherzige und bedeutungsschwere Hinweis auf eine Zukunft, die er seit seinem ersten Tag in Uniform nicht mehr hatte wahrhaben wollen. Er straffte noch seine Schultern und schüttelte den Kopf, doch er merkte auch, daß seine Schritte schleppend wurden.
Es waren kaum zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Walter spürte den Druck seiner Hilflosigkeit als körperlichen Schmerz. Er wußte, daß seine Grübeleien dabei waren, sich in jene Gespenster zu verwandeln, denen er nicht mehr entkommen konnte und deren Attacken ohne Gnade waren. Erschöpft setzte er sich auf einen großen Stein mit windpolierter Platte unter einer alten Dornakazie mit kräftiger Krone. Sein Herz raste. Er zuckte zusammen, als er sich laut »Walther von der Vogelweide« sagen hörte. Verwirrt überlegte er, wer das wohl gewesen sein mochte, aber der Name blieb ihm fremd. Die Situation erschien Walter so grotesk, daß er laut lachte. Er wollte aufstehen, und doch blieb er sitzen. Noch wußte er nicht, daß es der Moment war, da sich seine Augen für die Idylle einer Landschaft öffneten, gegen die sie sich so lange trotzig gewehrt hatten.
Die blau leuchtenden, sanften Hügel vom Ngong erhoben sich aus dem dunklen Gras und streckten sich einem Band aus feinen Wolken entgegen, das im aufkommenden Wind zu fliegen begann. Kühe mit großen Köpfen und dem Buckel, der ihnen das Aussehen urzeitlicher Tiere gab, bahnten sich durch rote Staubwolken den Weg zum schmalen Fluß. Deutlich waren die schrillen Rufe der Hirten zu hören. In der Ferne gab ein Gitter aus schwarzweißem Licht den Blick auf eine große Zebraherde mit vielen Jungtieren frei.
In ihrer Nähe fraßen Giraffen, die kaum ihre langen Körper bewegten, die Bäume kahl. Walter erwischte sich bei dem Gedanken, daß er die Giraffen, die er vor seiner Zeit im Ngong nie gesehen hatte, beneidete, weil sie gar nicht anders existieren konnten als mit hocherhobenem Kopf. Es machte ihn unsicher, daß er mit einem Mal die Landschaft als Paradies sah, aus dem er vertrieben werden sollte. Die Erkenntnis, daß er so nicht mehr seit dem Abschied von Sohrau empfunden hatte, beutelte seine Sinne.
Scharf schlug die Kühle der Nacht gegen seine Arme und peitschte seine Nerven. Die Dunkelheit, die wie ein Stein vom eben noch hellen Himmel fiel, verwehrte ihm einen neuen Blick auf die Hügelkette und nahm ihm die Orientierung. Walter wollte sich abermals Sohrau vorstellen und diesmal genauer, aber er sah weder Marktplatz und Haus noch die Bäume davor, sondern nur seinen Vater und seine Schwester auf einer großen leeren Fläche. Walter war
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