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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Beruf als töricht empfand, aber weder Regina noch ihr Aufsatz gönnten ihm Ruhe. Lustlos begann er die übrigen Arbeiten zu lesen, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Widerstrebend gab er der bei ihm seltenen Regung nach, in eine Vergangenheit einzutauchen, die er schon lange vergessen wähnte. Sie narrte ihn mit einer Bilderflut, die ihm in ihrer Ausführlichkeit kurios und  aufdringlich erschien.
    Um fünf Uhr ließ er sich, ganz gegen seine Überzeugung, dies nur zu tun, wenn er krank war, den Tee in seinen Räumen servieren. Er mußte sich zwingen, die abendliche Andacht in der Aula zu halten. Er erschrak sehr, daß er Reginas Gesicht in der Menge suchte, und hätte fast gelächelt, als ihm auffiel, daß sie beim Vaterunser nur die Lippen bewegte und nicht mitbetete. Mit jener Kompromißlosigkeit gegen sich selbst, die ihn sonst so gut vor den Gefährdungen weicher Regungen schützte, schalt sich Mr. Brindley einen alten Narren, aber er empfand doch den Beweis nicht unwillkommen, daß er längst nicht so erstarrt in der Routine des Alltags war, wie er häufig in dem nun endenden Semester gedacht hatte. Am nächsten Tag ließ er Regina rufen.
    Sie stand in seinem Zimmer, sah blaß, dünn und für einen Direktor, der Wert darauf legte, daß auch die jüngeren Kinder Courage zeigten und genug Disziplin hatten, ihre Gefühle zu beherrschen, beleidigend schüchtern aus. Verärgert fiel Mr. Brindley ein, daß die meisten Kinder vom Kontinent nicht kräftig genug wirkten und zudem während der Schulzeit immer an Gewicht verloren. Wahrscheinlich, überlegte er, waren sie anderes Essen gewöhnt. Bestimmt wurden sie zu Hause verzärtelt und nicht angehalten, mit ihren Problemen allein fertig zu werden.
    Er hatte in seiner Jugend auf einer Italienreise viele solche Beobachtungen gemacht und erlebt, wie Mütter ihre Kinder auf geradezu schamlose Weise vergötterten und sie zum Essen drängten. Manchmal wurmte es ihn immer noch, daß er damals die tyrannischen kleinen Prinzen und die aufgeputzten Prinzessinnen sogar beneidet hatte. Er merkte, daß er seine Gedanken hatte schweifen lassen. In letzter Zeit kam das bei ihm zu oft vor. Er war wie ein alter Hund, der nicht mehr wußte, wo er den Knochen vergraben hat.
    »Bist du so verdammt klug, oder kannst du es einfach nicht aushalten, wenn du nicht die Erste in deiner Klasse bist?« fragte er. Sein Ton mißfiel ihm sofort. Er sagte sich betreten, daß es nicht seine Aufgabe sei und früher bestimmt nicht seinem Berufsethos entsprochen hätte, so mit einem Kind zu reden, das nichts anderes getan hatte, als sein Bestes zu geben.
    Regina hatte Mr. Brindleys Frage nicht begriffen. Die einzelnen Worte waren ihr klar, aber sie ergaben keinen Sinn. Sie war erschrocken und geängstigt von den lauten Schlägen ihres Herzens, und so bewegte sie nur den Kopf ganz leicht von einer Seite zur anderen und wartete auf das Nachlassen der Trok-kenheit in ihrem Mund.
    »Ich habe dich gefragt, warum du so gut lernst.«
    »Weil wir kein Geld haben, Sir.«
    Der Direktor erinnerte sich, irgendwo einmal gelesen zu haben, daß es eine jüdische Angewohnheit war, bei jedem Thema von Geld zu sprechen. Er hatte aber eine zu große Abscheu vor Verallgemeinerungen, um sich mit einer Erklärung zufriedenzugeben, die er einfältig und irgendwie gehässig fand. Er kam sich wie ein Jäger vor, der versehentlich die Mutter eines Jungtiers erlegt hatte, und er verspürte einen unangenehmen Druck im Magen. Auch das leichte Pochen seiner Schläfen machte ihn benommen.
    Das Verlangen nach einer überschaubaren Welt ohne Komplikationen und mit den traditionellen Maßstäben, die einem alternden Mann Halt gaben, war wie ein körperlicher Schmerz. Einen kurzen Moment erwog Mr. Brindley, Regina wieder fortzuschicken, doch er sagte sich, daß es lächerlich wäre, ein Gespräch zu beenden, ehe es überhaupt angefangen hatte. Ob die Kleine noch wußte, wovon die Rede war? Wahrscheinlich, so eifrig sie war, alles mitzubekommen.
    »Mein Vater«, unterbrach Regina das Schweigen, »verdient nur sechs Pfund im Monat, und die Schule hier kostet fünf.«
    »Das weißt du so genau?«
    »O ja, Sir. Mein Vater hat mir das gesagt.«
    »Tatsächlich?«
    »Er sagt mir alles, Sir. Vor dem Krieg konnte er mich nicht zur Schule schicken. Das hat ihn sehr traurig gemacht. Meine Mutter auch.«
    Mr. Brindley war noch nie in der peinlichen Lage gewesen, die Höhe der Schulgebühren zu erörtern, und daß er ausgerechnet mit

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