Nirgendwo in Afrika
Regina erstmals neben ihr sitzen durfte, »kannst du Englisch. Wir müssen nie mehr flüstern.«
»Nein«, erkannte Regina, »jetzt kann uns jeder verstehen.« Es war eine Schicksalsgemeinschaft zwischen zwei Gleichaltrigen von sehr verschiedenem Naturell. Inge empfand Regina als die gute Fee, die sie von der Qual der Einsamkeit befreit hatte. Regina bemühte sich nicht einmal um Kontakt zu ihren Mitschülerinnen. Die faszinierten sie, aber Inge reichte ihr. Beide Mädchen spürten, daß ihnen nicht nur die sprachlichen Barrieren ihres schwierigen Anfangs den Zugang zu der Gemeinschaft verwehrten. Die heiter-robusten Kinder der Kolonie, die trotz der unerbittlichen Schulordnung das Leben miteinander genossen, kannten nur die Gegenwart.
Sie sprachen nur selten von den Farmen, auf denen sie lebten, und fast immer ohne Sehnsucht von ihren Eltern.
Sie verachteten das Heimweh neuer Schülerinnen, verspotteten alles, was ihnen fremd war, und verabscheuten im gleichen Maße körperliche Schwäche wie gute Leistungen im Unterricht. Weder das kalte Bad morgens um sechs und der Dauerlauf vor dem Frühstück noch die angebrannten Süßkartoffeln mit fettem Hammelfleisch zum Mittagessen und selbst die Schikanen älterer Schüler, die Strafarbeiten und Prügel vermochten die Gelassenheit von Kindern zu erschüttern, die auch von ihren Eltern zur Härte erzogen wurden.
Sonntags machten sie sich nur widerwillig an die vorgeschriebenen Briefe nach Hause, während Inge und Regina die Stunde zum Schreiben als Höhepunkt der Woche empfanden. Trotzdem waren ihre Briefe nicht unbeschwert, wußten sie doch, daß ihre Eltern die englisch geschriebenen Briefe nicht lesen konnten, aber es fehlte ihnen der Mut, sich einem Lehrer anzuvertrauen. Inge half sich mit kleinen Bildern, die sie an den Rand malte, Regina mit Suaheli. Beide ahnten, daß sie ge-gen die Schulordnung verstießen, und beteten in der Kirche flehentlich um Hilfe. Inge hatte das so bestimmt.
»Juden«, erklärte sie jeden Sonntag, »dürfen auch in einer Kirche beten. Wenn sie dabei die Finger kreuzen.«
Sie war praktisch, resolut und nicht so empfindsam wie die Freundin, kräftiger und geschickter. Fantasie hatte sie keine und schon gar nicht Reginas Talent, mit Worten Bilder zu zaubern. Als die Freundinnen nicht mehr in die Muttersprache flüchten mußten, um einander zu verstehen, genoß Inge Reginas Schilderungen wie ein Kind, das sich von der Mutter vorlesen läßt.
Ausführlich, mit ausgeprägtem Sinn für Details, voller Sehnsucht und berauscht von ihren Erinnerungen erzählte Regina vom Leben in Ol' Joro Orok, von ihren Eltern, Owuor und Rummler. Es waren Geschichten voller Verlangen, die sie aus einer sanften Welt heraufbeschwor. Sie trieben ihr Hitze in den Körper und Salz in die Augen, aber sie waren der große Trost in einer Welt von Gleichgültigkeit und Zwang. Regina konnte auch zuhören. Indem sie immer wieder nach der Farm in Lon-diani und Inges Mutter fragte, an die sie sich gut aus der Zeit im Norfolk erinnerte, brachte sie auch Inge dazu, Erinnerungen wie eine verfrühte Heimkehr zu empfinden. Beide Kinder haßten die Schule, fürchteten die Mitschülerinnen und mißtrauten den Lehrkräften. Als schwerste Bürde empfanden sie die Hoffnungen, die ihre Eltern in sie setzten.
»Vati sagt, ich darf ihm keine Schande machen und muß die Beste in der Klasse sein«, erzählte Inge.
»Das sagt Papa auch«, nickte Regina. »Ich wünsche mir oft«, fügte sie am vorletzten Sonntag vor den Ferien hinzu, »einen Daddy und keinen Papa.«
»Dann wäre dein Vater nicht dein Vater«, entschied Inge, die immer lange zögerte, ehe sie Regina auf der Flucht in die Fantasie folgte.
»Er wäre doch mein Vater. Ich wäre ja gar nicht Regina. Mit einem Daddy wäre ich Janet. Ich hätte lange blonde Zöpfe und eine Schuluniform aus ganz dickem Stoff, der nicht drückt. Und überall hätte ich Wappen, wenn ich Janet wäre. Ich könnte gut Hockey spielen, und keiner würde mich anstarren, weil ich besser lesen kann als die anderen.«
»Du könntest ja gar nicht lesen«, wandte Inge ein. »Janet kann ja auch nicht lesen. Sie ist schon drei Jahre hier und noch immer in der ersten Klasse.«
»Ihrem Daddy ist das bestimmt egal«, beharrte Regina, »alle haben Janet gern.«
»Vielleicht, weil Mr. Brindley in den Ferien mit ihrem Vater auf die Jagd geht.«
»Mit meinem Vater wird er nie auf die Jagd gehen.«
»Geht denn dein Vater auf die Jagd?« fragte Inge
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