Nixenfluch
aber es macht mir Angst. Ist es ein Porträt meines Bruders, wie er heute ist oder wie er sein wird?
Meine Gedanken werden unterbrochen. Conor sammelt seine Kraft. Energie fließt ihm zu, wie damals, als er den Wächterrobben begegnete oder als er die Runen las, die dem Schlussstein halfen, sich selbst zu heilen. Trotz des enormen Wasserdrucks hebt er die Hände empor, als wolle er jemand herbeirufen.
Ein Schauder geht durch mich hindurch. Dies ist mein Bruder, doch zugleich ist es nicht der Conor, den ich kenne, sondern jemand, der Fähigkeiten hat, die sich mein Alltagsbruder nicht mal vorstellen könnte.
»Im Namen unseres Mer-Blutes«, sagt er, als stimme er einen Choral an. »Im Namen unseres menschlichen Bluts. Mer und Menschen, ich rufe euch an.«
Alles kommt zum Stillstand. Die Gestalten verschwinden. Die Welt beruhigt sich. Die boshafte Krakenstimme verstummt.
Er hat es getan , denke ich. Er hat den Kraken zum Schweigen gebracht.
Stille. Mein Körper ist taub. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Sollte Conor wirklich stark genug sein, um den Kraken mit wenigen Worten zu besiegen? Ich würde es ja gern glauben, doch irgendwie kommt mir das zu einfach vor. Faro und ich treiben reglos im Wasser, warten und hoffen. Conors Arme sind immer noch erhoben. Die Stille zieht sich in die Länge, wie ein Tropfen Öl, der jeden Moment von einem Löffel fällt.
Dann höre ich ein leises Kichern. Verdammt. Das ist der Krake, wer sonst. Niemand sonst könnte ein so unscheinbares Geräusch mit so viel Bosheit aufladen. Der Krake kichert erneut, bevor er seine Stimme wiederfindet. Zunächst ist es nur die Ahnung einer Stimme, doch sobald ich sie höre, weiß ich, dass der Krake sich nicht verändert hat. Wie sollte Conor auch einem Monster den Garaus machen, das schon seit über fünfzig Lebensaltern die Tiefe beherrscht? So ist das Leben nicht.
Der Krake ist zurück und so großmäulig wie zuvor. »Netter Versuch«, frotzelt er. »Und da bin ich wieder – hallihallo!«
Seinem ganzen Mut zum Trotz lässt Conor die Arme fallen. Wir drei werden von Verzweiflung ergriffen. Der Albtraum geht wieder von vorn los. Die Figuren kreisen uns ein, verspotten uns, geben keine Ruhe.
»Ich hab mein Bestes getan«, brummt Conor.
»Das weiß ich doch.«
Unsere Stimmen erzeugen in der Tiefe ein hohles Echo. Wir werden den Kraken niemals besiegen. Wir werden hier sterben und der Krake wird über uns lachen.
Ich war so naiv. Ich bin stets davon ausgegangen, dass andere mich schon retten würden: der Wal, Faro oder Conor. Aber das wird nicht geschehen.
»Lasst uns Verstecken spielen«, sagt der Krake kichernd und ist im nächsten Moment verschwunden. Er ist nicht mehr zu sehen, doch ich weiß, dass uns dies nur eine kurze Atempause beschert.
Fieberhaft denke ich nach. Ich muss endlich die tastenden Lichtfinger loswerden, die mich immer noch bedrängen. Niemand wird uns helfen. Wir müssen uns selbst helfen. Das ist unsere einzige Chance.
Ich dachte schon, die Lichter wären verschwunden, doch sie sind immer noch in meinem Kopf. Ich muss sie verscheuchen und dann kann ich vielleicht einen Plan aushecken.
Ich unternehme eine große Anstrengung. Mit äußerster Konzentration denke ich daran, wie ich durch ein smaragdgrünes Meer schwimme. Ich denke an die Stimmen der Delfine. Und an Saldowr, der mich anlächelt und sagt: »Gut gemacht, myrgh kerenza.« All das ist ganz real.
Meine Gedanken klären sich, als würde die Sonne die Wolken beiseiteschieben. Dann sehe ich ihn. Den Spiegel.
»Conor! Der Spiegel! Wir haben den Spiegel ganz vergessen.«
Der Tentakel einer Qualle legt sich über mein Gesicht. Ich schreie auf. Im nächsten Moment sehe ich eine Klaue, die sich abwechselnd schließt und öffnet, während sie in einem Lichtstreifen auf mich zukommt.
»Conor!«
»Schnell!«, flüstert Conor und fummelt am Seegras und Tang herum, mit dem er den Spiegel an seinem Bein festgemacht hat. »Hilf mir, Saph.«
Hektisch versucht er, den Spiegel freizubekommen. Seine plumpen Finger kämpfen gegen die Langsamkeit der Tiefe an. Ich reiße und zerre und breche mir an den harten Stängeln die Nägel ab. Die metallene Rückseite des Spiegels wird sichtbar, dann sein Griff. Ich umfasse ihn und ziehe ihn mit aller Kraft heraus. Hier unten ist er zehnmal so schwer wie in Indigo. Ich kann ihn kaum heben.
Selbst im trüben, diffusen Licht des Kraken glänzt er hell und strahlend. Obwohl ich ihn nicht ansehe, fühle ich mich von ihm
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