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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
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erkennen, die an der Mündung auf dem Felsen sitzt. Eine Gestalt, die von Weitem wie ein Surfer in einem Neoprenanzug aussieht. Wenn man näher herangeht, sieht sie aus wie ein Junge, dann wie ein Seehund und dann wieder wie ein Junge. Doch weil Glorias Bein verletzt ist, kann sie nicht die Felsen zur Bucht hinunterklettern. Vielleicht ist das auch gut so.
    »Sind Sie am Meer geboren worden?«, frage ich unvermittelt.
    Sie starrt mich an. »Warum fragst du mich das?«
    »Ich hatte irgendwie das Gefühl.«
    »Wie merkwürdig. Du hast recht. Ich bin zwar in London aufgewachsen, aber geboren wurde ich auf der Insel Skye in Schottland. Unser Haus lag direkt am Strand.«
    »Sie hören sich gar nicht schottisch an.«
    »Nein, ich bin durch und durch Londonerin. Meinem Vater geht es genauso. Er kam aus Jamaika, als er zwei Monate alt war. Aber meine Mutter war Schottin und auf Skye zu Hause. Meine ersten sechs Lebensjahre habe ich dort verbracht. Dann sind wir nach London gezogen, weil mein Vater dort einen Job bekommen hat. Vielleicht liebe ich deshalb
diesen Ort so sehr. Er erinnert mich an meine Kindheit. Skye ist wunderschön. Ich denke noch oft an die Seehunde. Früher dachte ich, ich könnte mit ihnen reden. Wir haben so abgelegen gewohnt, dass ich mich wohl mehr mit den Seehunden als mit anderen Kindern unterhalten habe.«
    Die Erinnerung lässt ihre Gesichtszüge glatt und sanft werden. Ich spüre eine zunehmende Vertrautheit mit diesem Gesicht. Ich hatte recht. Die Spuren von Indigo sind unübersehbar. Vielleicht weiß sie selbst noch nicht, was das bedeutet.
    Ich bin außer mir vor Aufregung und kann es kaum erwarten, Conor davon zu erzählen. Es gibt auch andere, die so sind wie wir. Wir sind keine Freaks. Wir gehören etwas an, das viel größer ist, als wir bislang wussten. Vielleicht existieren noch andere Zugänge. Vielleicht gibt es noch andere Leute, verteilt über die ganze Welt, die die Haut des Meeres durchdringen und nach Indigo gelangen können.
    Während ich mich zu Sadie hinabbeuge und zum Schein an ihrem Halsband herumfummele, pfeife ich ein paar Takte aus O Peggy Gordon.
    Ach wäre ich doch in Indigo
und teilte die salzige See
in den tiefsten Fluten …
    Ich werfe ihr einen verstohlenen Blick zu. Gloria scheint in Gedanken weit, weit fort zu sein. Sie lauscht konzentriert. »Was ist das für eine Melodie, die du da pfeifst?«
    »Es ist ein Lied und heißt O Peggy Gordon. «
    »Ist es ein schottisches Lied?«

    »Ich weiß es nicht. Kann schon sein. Mein Vater kannte viele schottische Lieder.«
    »Ich bin mir sicher, dass ich es kenne. Meine Mutter hat mir viele Lieder vorgesungen. Kennst du den Text?«
    Ich schüttele den Kopf. Das ist zu riskant. Mit diesem Lied fing alles an, in der Mittsommernacht, bevor Dad verschwand. Damals hat er O Peggy Gordon gesungen … Er lauschte und lauschte … und konnte sich später gar nicht mehr daran erinnern.
    Ich darf Gloria den Text nicht verraten oder Indigo in ihrem Beisein erwähnen. Nicht hier. Nicht jetzt. Was geschieht, wenn Indigo sie ruft und sie allein ist? Vielleicht wird sie dann zum Felsen über der Bucht gelockt. Ohne Krücken ist sie zwar nicht in der Lage, dort hinunterzuklettern, doch ich weiß, wie groß der Sog von Indigo werden kann. Gloria könnte es trotz allem versuchen und vielleicht abstürzen. Nein, es ist besser für sie, nicht zu viel zu wissen. Vorerst.
    »Ich muss jetzt gehen«, sage ich laut. »Aber ich würde … ich würde wirklich gern wiederkommen und meinen Bruder Conor mitbringen, damit er Sie kennenlernt.«
    Sie nickt. »Gute Idee.« Ist ihr auch etwas an meinem Gesicht aufgefallen? Hat sie auch das Gefühl, dass wir uns nicht fremd sind – eher wie entfernte Cousinen zweier Familien, deren Mitglieder schon seit Generationen in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind?
    Reiß dich zusammen, Sapphire. Wenn du irgendwas in der Richtung äußerst, wird die Frau denken, dass du völlig verrückt bist, und dich nächstes Mal nicht zu sich hereinlassen.
    Doch im möchte wiederkommen. In einiger Zeit. Ich bin
mir absolut sicher, dass ich Gloria Fortune wiedersehen werde. Irgendwann in der Zukunft – zu einer Zeit, die nur Granny Carne kennt – werden unsere Leben miteinander verbunden sein.
    »Mach’s gut«, sagt Gloria lächelnd. »Ich werde Rob erzählen, dass ich die kleine Meerfrau getroffen habe. Es wird ihm leidtun, dass er nicht da war. Du siehst wirklich genauso aus wie auf dem Foto.«

Siebtes Kapitel

    I ch hatte

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