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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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krame, in dem die Fotos aufbewahrt werden, klopft mir das Herz zum Zerspringen. Maman würde ausrasten, wenn sie mich dabei ertappte.
    Nach ein paar Tagen kamen sie nach Hause zurück. Es machte mir Spaß, Thaïs zu wickeln, sie zu baden und sie zu beruhigen, wenn sie weinte. Auf dem Nachhauseweg von der Schule beeilte ich mich, um schnell wieder bei ihnen zu sein. Als sie anfing, aus dem Fläschchen zu trinken, setzte ich mich mit einem Kissen unter dem Arm aufs Sofa und gab ihr das Abendfläschchen, man musste auf die Luftbläschen achten und darauf, wie schnell sie trank, das weiß ich noch.

    Diese Augenblicke gehören uns nicht mehr, sie sind in eine Kiste eingeschlossen, ganz hinten im Schrank verstaut, außer Reichweite. Diese Augenblicke sind erstarrt wie auf einer Postkarte oder einem Kalender, die Farben werden vielleicht verblassen, ausbleichen, im Gedächtnis und in den Worten sind sie verboten.

    Eines Sonntagsmorgens hörte ich Maman s Schrei, einen Schrei, den ich nie vergessen werde.
    Noch heute geschieht es, wenn ich meinen Geist wandern lasse, wenn ich die Wege meiner Gedanken nicht kontrolliere, wenn in meinem Kopf alles frei fließt, weil ich mich langweile, wenn die Stille ringsum immer größere Kreise zieht, dass dieser Schrei zurückkehrt und mich zerreißt.
    Ich rannte ins Schlafzimmer und sah Maman, wie sie Thaïs schüttelte und dabei schrie, ich verstand nichts, sie presste sie an sich, sie schüttelte sie wieder und küsste sie, Thaïs’ Augen waren geschlossen, mein Vater war schon am Telefon und rief den Rettungswagen. Und dann ließ sich Maman langsam auf den Teppichboden fallen, sie kniete, über ihr Baby gebeugt, und sagte weinend nein, nein, nein. Ich weiß noch, dass sie nur einen BH und einen Slip trug, in dem Aufzug kann man doch niemanden empfangen, dachte ich damals, und zugleich hatte ich das Gefühl, dass sich gerade etwas ereignete, etwas nicht Wiedergutzumachendes. Die Notärzte kamen schnell, sie untersuchten Thaïs, und ich weiß, Maman las es ihnen an den Augen ab, dass es vorbei war. Im selben Augenblick wurde sich Papa meiner Gegenwart bewusst, er brachte mich weg, sein Gesicht war bleich, und seine Lippen zitterten. Er umarmte mich ganz fest und sagte kein Wort.

    Dann kamen die Trauerkarten, die gedämpften Unterhaltungen, die unzähligen Anrufe, die Briefe, die Beerdigung. Und dann eine große Leere wie ein schwarzes Loch. Ich meine, wir haben nicht so sehr geweint, alle zusammen, vielleicht hätten wir das tun sollen, vielleicht wäre es dann heute leichter. Das Leben ging weiter wie zuvor, im selben Rhythmus, nach demselben Zeitplan, mit denselben Gewohnheiten. Meine Mutter war da, sie war bei uns und machte das Essen, sie füllte die Waschmaschine, sie hängte die Wäsche auf, doch es war, als wäre ein Teil von ihr fortgegangen, zu Thaïs, an einen Ort, den nur sie kannte. Ihre erste Krankschreibung wurde verlängert, einmal, dann noch einmal, sie konnte nicht mehr arbeiten. Ich war in der vierten Grundschulklasse, die Lehrerin bestellte meinen Vater zu sich, weil sie mein Verhalten für ein Kind meines Alters anormal fand. Ich war bei dem Gespräch dabei, sie sagte, ich lege eine besorgniserregende Reife an den Tag, an diese Worte erinnere ich mich noch, sie erwähnte Thaïs’ plötzlichen Tod – die ganze Schule wusste davon – und sagte, er sei für eine Familie ein schweres Trauma, das jeden zerstören könne, und man müsse Hilfe in Anspruch nehmen. Sie war es, die meinem Vater riet, mich zu einer Psychologin zu bringen. Deshalb ging ich bis zum Ende jenes Jahres jeden Mittwoch zu Madame Cortanze. Bei ihr machte ich noch einmal verschiedene Intelligenztests und andere Tests mit seltsam klingenden Namen und Abkürzungen, die ich inzwischen vergessen habe. Ich ging ohne erkennbaren Widerwillen hin, um meinem Vater einen Gefallen zu tun. Ich weigerte mich zwar, Zeichnungen und all die anderen Sachen zu machen, die Psychologen von Kindern verlangen, um Dinge zu erraten, die diese Kinder denken, ohne sie wirklich zu denken oder ohne zu wissen, dass sie sie denken, aber ich war bereit zu sprechen. Madame Cortanze nickte immer sehr überzeugt, und sie unterbrach mich selten, ich legte ihr meine Theorien über die Welt vor, damals habe ich damit begonnen: Theorie der Untermengen, Theorie des unendlich Dummen, Theorie der Rollkragen, Gleichungen ohne Unbekannte, sichtbare und unsichtbare Segmente und dergleichen mehr. Sie hörte wirklich zu, konnte sich immer

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