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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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an das erinnern, was ich am Mittwoch zuvor gesagt hatte, und versuchte sich an der Herstellung von Bezügen und Schlussfolgerungen, dann war es an mir zu nicken, ich wollte ihr weder Ärger noch Kummer bereiten, denn Madame Cortanze trug auf dem Kopf einen ungeheuer hohen Haarknoten, der ganz sicher nur durch pure Magie hielt.

    Meine Mutter wurde krank. Wir sahen, wie sie sich ganz langsam entfernte, doch wir konnten sie nicht zurückhalten, wir streckten die Hand nach ihr aus, doch wir konnten sie nicht erreichen, wir schrien, doch sie schien uns nicht zu hören. Sie sprach nicht mehr, sie stand nicht mehr auf, sie blieb den ganzen Tag im Bett, oder sie saß in dem großen Sessel im Wohnzimmer und döste vor dem Fernseher. Manchmal streichelte sie mir mit abwesendem Blick übers Haar oder übers Gesicht, manchmal nahm sie meine Hand und drückte sie, einfach so, ohne Grund, und manchmal küsste sie mich auf die Augen. Sie aß nicht mehr mit uns. Sie kümmerte sich nicht mehr um den Haushalt. Mein Vater redete stundenlang auf sie ein, manchmal wurde er wütend auf sie, dann hörte ich laute Stimmen aus dem Schlafzimmer, ich presste das Ohr an die Wand, um die Worte und Bitten zu verstehen, so schlief ich ein, im Sitzen, und schreckte auf, wenn mein Körper aufs Bett zurückrutschte.
    Im Sommer darauf trafen wir uns mit Freunden am Meer. Maman blieb fast die ganze Zeit im Haus, sie trug weder ihren Badeanzug noch die Sandalen mit der großen Blüte in der Mitte, ich glaube, sie zog sich jeden Tag gleich an, wenn sie überhaupt auf den Gedanken kam, sich anzuziehen. Es war heiß in jenem Jahr, eine seltsame Hitze, feucht und klebrig und so, mein Vater und ich versuchten, fröhlich zu bleiben, wieder in die frühere Ferienstimmung zu kommen, aber wir waren nicht stark genug.
    Inzwischen weiß ich ein für alle Mal, dass man Bilder nicht verscheuchen kann, und schon gar nicht die unsichtbaren Risse, die sich tief im Bauch bilden, man kann die Nachklänge und Erinnerungen nicht verscheuchen, die wach werden, wenn es Nacht wird oder der Morgen anbricht, man wird den Nachhall der Schreie nicht los, und schon gar nicht den des Schweigens.

    Anschließend fuhr ich wie jedes Jahr für einen Monat zu meinen Großeltern in die Dordogne. Am Ende des Sommers kam mein Vater, er hatte mir Wichtiges mitzuteilen. Meine Mutter war in ein auf schwere Depressionen spezialisiertes Krankenhaus aufgenommen worden, und mich hatten sie in einem auf intellektuelle Frühreife spezialisierten Collège angemeldet.
    Ich fragte meinen Vater, worauf denn er sich zu spezialisieren gedenke. Er lächelte und nahm mich in die Arme.

    Vier Jahre verbrachte ich in Nantes. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, erscheint es mir viel, ich meine, wenn man ein, zwei, drei, vier Schuljahre zählt, pro Jahr etwa zehn Monate Unterricht, pro Monat dreißig oder einunddreißig Tage, dann erscheint es enorm, die Stunden und Minuten will ich gar nicht erst zählen, aber diese Zeit ist ganz in sich zusammengeschrumpft, sie ist leer wie eine unbeschriebene Seite in einem Heft, nicht, dass es keine Erinnerungen gäbe, aber die Farben stimmen nicht, sie sind zu grell, wie bei einem überbelichteten Foto. An jedem zweiten Wochenende fuhr ich zurück nach Paris. Anfangs besuchte ich meine Mutter im Krankenhaus, bedrückt und mit vor Angst verkrampftem Magen, ihre Augen waren glasig wie die eines toten Fischs, ihr Gesicht war starr, sie saß im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher, ich erkannte ihren gebeugten Körper und das Zittern ihrer Hände von weitem, mein Vater versuchte mich zu beruhigen, sie nehme viele Medikamente und die hätten Nebenwirkungen, doch die Ärzte seien optimistisch, es gehe ihr schon besser. Später, nach ihrer Entlassung, kam sie mit ihm zur Gare Montparnasse, um mich abzuholen, sie erwarteten mich am Ende des Bahnsteigs, ich versuchte mich aus der Ferne an ihre reglose, gebrochene Gestalt zu gewöhnen, wir umarmten uns ohne allzu großen Überschwang, mein Vater nahm meine Tasche, und wir gingen zum Aufzug, ich sog den Geruch von Paris in vollen Zügen ein, wir stiegen alle drei in den Wagen. Am nächsten Tag brachten sie mich wieder zum Zug, die Zeit war so rasch vergangen, ich musste wieder fort.

    Wochenlang träumte ich, dass mein Vater eines Sonntagabends sagen würde, so kann das nicht weitergehen, bleib bei uns, du darfst nicht so weit weg sein, dass er kehrt machen würde, bevor wir am Bahnhof wären. Wochenlang träumte ich davon, dass er

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