No & ich: Roman (German Edition)
Ampel werden, auf einer ganz großen Kreuzung, es gab nichts Ehrenhafteres und Lobenswerteres, so schien mir, als den Verkehr zu regeln, von Rot auf Grün zu springen und von Grün auf Rot, um die Menschen zu beschützen. Als ich klein war, sah ich zu, wenn meine Mutter sich vor dem Spiegel schminkte, ich verfolgte jede ihrer Gesten, den schwarzen Lidstrich, die Wimperntusche, wie sie den Lippenstift auftrug, ich roch ihren Duft, ich wusste nicht, dass es so zerbrechlich war, ich wusste nicht, dass die Dinge aufhören können, einfach so, und nie wiederkommen.
Als ich acht Jahre alt war, wurde meine Mutter schwanger. Sie und mein Vater hatten schon lange versucht, ein zweites Kind zu bekommen. Sie war zum Gynäkologen gegangen, sie hatte Medikamente genommen, sich Spritzen geben lassen, und dann war es schließlich so weit. Ich hatte mich im Lexikon der Säugetiere über die Fortpflanzung informiert, Uterus, Eierstöcke, Samenzellen und diese ganzen Sachen, also konnte ich präzise Fragen stellen, um zu verstehen, was vor sich ging. Der Arzt hatte von einer In-vitro-Fertilisation gesprochen (das hätte ich sagenhaft gefunden, ein in einem Reagenzglas fabriziertes Brüderchen oder Schwesterchen), doch es war dann doch nicht nötig gewesen, meine Mutter wurde schwanger, als sie schon nicht mehr daran glaubten. Am Tag, als sie den Test gemacht hatten, haben wir mit Champagner angestoßen. Wir würden zu niemandem etwas sagen, bevor die drei Monate vorüber wären, die drei Monate, in denen die Mütter ihre Babys verlieren können. Ich war sicher, dass es gutgehen würde, in meinen Lexika verfolgte ich die Größe des Embryos, die verschiedenen Entwicklungsstadien und so, ich betrachtete die Schemata und recherchierte zusätzlich im Internet. Nach einigen Wochen konnten wir es allen verkünden und mit den Vorbereitungen beginnen. Mein Vater verlegte sein Arbeitszimmer ins Wohnzimmer, um das Zimmer zu räumen, und wir kauften dem Baby, einem Mädchen, ein Bett. Meine Mutter suchte die Sachen hervor, die ich getragen hatte, als ich klein war, wir sortierten sie gemeinsam und legten dann alles sorgsam gefaltet in die lackierte Kommode. Im Sommer fuhren wir in die Berge, ich erinnere mich noch an Mamans Bauch in dem roten Badeanzug am Rand des Schwimmbeckens, an ihr im Wind wehendes langes Haar, an ihre Nickerchen unter dem Sonnenschirm. Als wir nach Paris zurückkehrten, sollte es nur noch zwei oder drei Wochen bis zur Geburt dauern. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ein Baby aus Mamans Bauch kommen sollte. Dass es einfach so losgehen könnte, ohne Vorwarnung, obwohl ich vieles in ihren Schwangerschaftsbüchern gelesen hatte und obwohl sich all das wissenschaftlich erklären ließ. Eines Abends fuhren sie in die Frauenklinik. Sie brachten mich für die Nacht bei der Nachbarin gegenüber unter, mein Vater trug den Koffer, den wir gemeinsam gepackt hatten, mit den kleinen Schlafanzügen, den Söckchen und so, man konnte sehen, dass sie glücklich waren. Ganz früh am nächsten Morgen rief er an, meine Schwester war zur Welt gekommen. Am nächsten Tag durfte ich sie besuchen, sie schlief in einem durchsichtigen Plastikbettchen auf Rollen neben dem Bett meiner Mutter.
Ich weiß, dass man Überschallflugzeuge und Raketen in den Weltraum schickt, dass man einen Verbrecher anhand eines Haars oder eines winzigen Hautpartikels identifizieren kann, dass man Tomaten züchtet, die nach drei Wochen im Kühlschrank immer noch faltenfrei sind, und dass man Milliarden von Informationen auf einem Mikrochip aufbewahren kann. Aber nichts, gar nichts von alldem, was existiert und was sich unablässig weiterentwickelt, wird mir je unglaublicher und spektakulärer erscheinen als das: Thaïs war aus Mamans Bauch gekommen.
Thaïs hatte einen Mund, eine Nase, Hände, Füße, Finger und Fingernägel. Thaïs konnte die Augen öffnen und schließen, gähnen, saugen und die Arme bewegen, und diesen ungeheuren Präzisions-Mechanismus hatten meine Eltern zustande gebracht.
Wenn ich allein zu Hause bin, schaue ich mir manchmal die Fotos an, die ersten. Da ist Thaïs auf meinem Arm, Thaïs, die an der Brust meiner Mutter schläft, wir vier auf dem Krankenhausbett – dieses Foto hat meine Großmutter gemacht, es ist nicht gut eingestellt, im Hintergrund sieht man das Zimmer, die blauen Wände, die Geschenke, die Pralinenschachteln. Vor allem sieht man Maman s Gesicht, es ist unglaublich glatt, und ihr Lächeln. Wenn ich in dem kleinen Holzkasten
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