No & ich: Roman (German Edition)
Nächte, und dann vergesse ich die Leute.«
Er sah mich lange an, meinen Mantel, meine Stiefeletten, mein Haar, er kratzte sich am Kopf, wie jemand, der sich unschlüssig ist.
»Wie alt bist du?«
»Dreizehn. Fast vierzehn.«
»Bist du mit ihr verwandt?«
»Nein.«
»Manchmal ist sie in der Suppenküche in der Rue Clément. Ich hab ihr den Tipp gegeben, ab und an treffe ich sie dort. So, aber jetzt mach dich vom Acker.«
Als ich wieder zu Hause war, recherchierte ich auf der Website der Stadtverwaltung und fand die genaue Adresse, die Öffnungszeiten und die Telefonnummer. Die Mahlzeiten werden zwischen 11 Uhr 45 und 12 Uhr 30 ausgegeben, die Nummern ab 10 Uhr. Ich stellte mich an mehreren Tagen hintereinander auf den Bürgersteig gegenüber und beobachtete über eine Stunde lang, wie die Leute ein und aus gingen, ich habe sie nicht gesehen.
E s ist der letzte Ferientag, die Schlange zieht sich über etwa fünfzig Meter, die Türen sind noch geschlossen, ich erkenne ihren Blouson schon von weitem. Je näher ich komme, desto schwächer fühle ich mich auf den Beinen, ich muss langsamer gehen, mir Zeit lassen, sehr komplizierte Multiplikationen und Divisionen im Kopf ausführen, während ich auf sie zugehe, um sicherzustellen, dass ich weitergehe. Das mache ich oft, wenn ich Angst habe, ich könnte anfangen zu weinen oder den Rückzug antreten, dann gebe ich mir zehn Sekunden, um drei Wörter zu finden, die mit h anfangen und mit e enden, ein vertracktes Verb wie dünken im Konjunktiv II zu konjugieren oder hochkomplizierte Gleichungen mit vielen Unbekannten aufzustellen. Sie sieht mich. Sie sieht mir geradewegs in die Augen. Keine Geste, kein Lächeln, sie wendet sich ab, als hätte sie mich nicht erkannt. Ich komme auf ihrer Höhe an, ich sehe ihr Gesicht, wie sehr sie sich verändert hat, diese Bitterkeit um den Mund, diesen Ausdruck von Niederlage, Aufgabe. Ich bleibe stehen, sie ignoriert mich, sie wartet, eingeklemmt zwischen zwei Männern, sie macht keinen Schritt, um sich Luft zu verschaffen, sie bleibt da, hinter dem Dickeren, das Gesicht in ihrem Schal vergraben. Die Stimmen verstummen, einige Sekunden lang sehen mich alle an, von unten nach oben und von oben nach unten.
Ich bin gut angezogen. Ich trage einen sauberen Mantel mit einem funktionierenden Reißverschluss, geputzte Schuhe, einen Markenrucksack, mein Haar ist glatt und gut geschnitten. In einem Logikspiel, in dem man den Eindringling erraten müsste, käme man sehr schnell auf mich.
Die Gespräche setzen wieder ein, leise und aufmerksam, ich gehe näher an sie heran.
Ich komme nicht dazu, den Mund zu öffnen, sie wendet mir den Kopf zu, ihr Gesicht ist hart, verschlossen.
»Was treibst du hier?«
»Ich hab dich gesucht …«
»Was willst du?«
»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«
»Mir geht’s sehr gut, danke.«
»Aber du …«
»Mir geht’s gut, hast du verstanden? Mir geht’s sehr gut. Ich brauche dich nicht.«
Sie hat mit erhobener Stimme gesprochen, durch die Schlange geht ein Raunen, ich verstehe nur Bruchstücke, was ist los, es ist die Kleine da, was will sie, ich kann mich nicht mehr rühren, No stößt mich brüsk zurück, ich rutsche vom Bürgersteig, ich kann meinen Blick nicht von ihrem Gesicht lösen, sie hält die Hand weiter ausgestreckt, um mich auf Distanz zu halten.
Ich möchte ihr sagen, dass ich sie brauche, dass ich nicht mehr lesen kann, nicht mehr schlafen, dass sie nicht das Recht hat, mich so allein zu lassen, obwohl ich weiß, dass es eine verkehrte Welt ist, die Welt dreht sich sowieso verkehrt herum, man braucht sich bloß umzuschauen, ich möchte ihr sagen, dass sie mir fehlt, obwohl sie es ist, der es an allem fehlt, an allem, was man zum Leben braucht, aber ich bin auch ganz allein, und ich wollte sie abholen.
Die Ersten betreten jetzt das Gebäude, die Schlange rückt rasch vor, und ich folge ihr.
»Hau ab, Lou, ich sag’s dir. Du gehst mir auf den Geist. Du hast hier nichts zu suchen. Das ist nicht dein Leben, verstehst du, das ist nicht dein Leben!«
Die letzten Worte hat sie gebrüllt, mit unglaublicher Heftigkeit, ich weiche zurück, schaue sie aber immer noch an, schließlich drehe ich mich um und gehe, einige Meter weiter sehe ich mich ein letztes Mal um, sie tritt gerade ins Haus, auch sie sieht sich um, sie bleibt stehen, es sieht aus, als weine sie, sie rührt sich nicht mehr, die anderen rempeln sie an, gehen an ihr vorbei, ich höre, wie jemand sie beschimpft, sie
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