No & ich: Roman (German Edition)
Ich experimentierte. Jetzt warte ich auf die Veränderung meines Körpers, aber ich bin nicht wie die anderen Mädchen, ich rede nicht von meinen Klassenkameradinnen, sie sind fünfzehn, ich rede von den Mädchen meines Alters. Wenn ich ihnen auf der Straße begegne, sehe ich genau, dass sie gehen, als gingen sie irgendwohin, sie sehen nicht auf ihre Füße, und aus ihrem Lachen klingen all ihre gemeinsamen Schwüre. Mir jedoch gelingt es nicht zu wachsen, eine andere Form anzunehmen, ich bin und bleibe ganz klein, vielleicht weil ich das Geheimnis kenne, von dem die anderen nichts wissen wollen, vielleicht weil ich weiß, wie winzig klein wir sind.
Wenn man zu lange im Badewasser liegen bleibt, bekommt man ganz schrumpelige Finger. Die Erklärung dafür habe ich in einem Buch gelesen: Unsere oberste Hautschicht, die Epidermis, nimmt Wasser auf, dehnt sich aus und wirft Falten. Das nämlich ist das eigentliche Problem: Wir sind Schwämme. Und in meinem Fall betrifft das nicht nur Hände und Füße. Ich nehme alles auf, immer, ich bin durchlässig. Meine Großmutter findet das gefährlich und sehr ungesund. Die arme Kleine, sagt sie, irgendwann platzt ihr der Kopf von all dem, was sie aufsaugt, wie soll sie sich da noch orientieren, eine Auswahl treffen, Bernard, du solltest sie in einen Gymnastikkurs schicken oder ihr Tennisstunden geben lassen, damit sie sich ein wenig austobt, damit sie ins Schwitzen kommt, sonst stolpert sie noch über ihren Kopf.
E r ist hinten in den Bus eingestiegen, an der ersten Haltestelle nach meiner. Er steht direkt vor mir. Er hält mir die Wange hin, ich halte mich an der Stange fest, aber ich lasse sie los, um einen Schritt auf ihn zu zu machen, und trotz all der Leute ringsum kann ich den Weichspülergeruch wahrnehmen, der seiner Kleidung entströmt.
»Hattest du schöne Ferien, Krümel?«
Ich verziehe nur das Gesicht.
Lucas steht vor mir, in dieser lässigen Haltung, die er nur selten verliert. Dabei weiß ich, er weiß es. Er weiß, dass alle Mädchen auf der Schule verrückt nach ihm sind, er weiß, dass Monsieur Marin ihn respektiert, auch wenn er ihn andauernd kritisiert, er weiß, wie wenig wir die Zeit beherrschen und dass die Welt nicht rundläuft. Er weiß, wie man durch die Glasscheiben und den Nebel sieht, er weiß um Stärke und Schwäche, er weiß, dass wir alles sind und dessen Gegenteil, er weiß, wie schwer es ist, groß zu werden. Einmal hat er mir gesagt, ich sei eine Fee.
Er beeindruckt mich. Ich beobachte ihn, während der Bus wieder anfährt, wir schieben uns nach hinten durch, er will Näheres über mein Weihnachten wissen, ich gebe ihm die Frage nur zurück. Er war bei seinen Großeltern auf dem Land, er lächelt achselzuckend.
Wie gern würde ich ihm erzählen, dass ich No verloren habe, dass ich mir Sorgen um sie mache, ich bin sicher, er würde es verstehen. Ihm sagen, dass ich an manchen Abenden keine Lust habe, nach Hause zu gehen, wegen all der Trauer, die an den Wänden klebt, wegen der Leere in den Augen meiner Mutter, wegen der in den Schachteln vergrabenen Fotos, wegen der Fischstäbchen.
»Wir könnten doch mal einen Abend Schlittschuh laufen gehen, wenn du magst, Krümel?«
»Hmmm.«
(Bei Go Sport habe ich Schlittschuhe gesehen, da sind haufenweise Schnürsenkel dran, die man durch Häkchen ziehen muss. Eine unlösbare Aufgabe.)
Vor der Schule steigen wir aus, die Tore sind noch nicht offen, die Schüler finden sich zu Grüppchen zusammen, sie reden, albern, rauchen, Lucas kennt hier alle, aber er bleibt bei mir.
Ich versuche, unbekümmert zu wirken und die Gedanken zu verbannen, diese Gedanken, die mir manchmal durch den Kopf schießen, wenn ich sehe, alles könnte geschehen, das Beste und das Schlimmste, diese Gedanken tauchen in allen möglichen Augenblicken auf, sobald meine Aufmerksamkeit nachlässt, sie sind wie ein optischer Filter, durch den man das Leben in anderem Licht sieht. Das Leben in schöner oder als Katastrophe, je nachdem.
Ich versuche dem Gedanken auszuweichen, dass Lucas eines Tages die Arme um mich legen und mich an sich drücken könnte.
M itten in der Flut treibend, gehe ich durch das große Tor hinaus. Ich sehe sie auf dem Bürgersteig gegenüber. Ich sehe sie sofort: ein dunkler Punkt im Abendlicht. No wartet auf mich. Sie hat sich den Namen meiner Schule gemerkt und ist gekommen. Sie schleppt nicht ihren üblichen Krempel mit sich herum, sie hat sich nur eine Tasche über die Schulter gehängt. No ist da, ich
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