No & ich: Roman (German Edition)
Bei uns hätte sie ein Bett, einen Platz am Tisch, einen Schrank für ihre Sachen, eine Dusche. Bei uns hätte sie eine Anschrift. Sie könnte wieder nach einer Stelle suchen. All die Zeit über ist Thaïs’ Zimmer leer geblieben. Mein Vater hat schließlich das Kinderbett, die Anziehsachen und die Kommode weggeschenkt. Später hat er ein Sofa und einen Tisch hineingestellt. Von Zeit zu Zeit zieht er sich dorthin zurück. Wenn er eine Arbeit fertig machen muss. Oder wenn er allein sein will. Meine Mutter betritt das Zimmer nicht, jedenfalls nicht in unserer Anwesenheit. Sie hat nichts angerührt, mein Vater hat sich um alles gekümmert. Wenn wir von dem Zimmer sprechen, sagen wir nicht mehr Zimmer, sondern Arbeitszimmer. Die Tür ist immer geschlossen.
Ich warte einige Tage, bis ich die Sache angehe. Ich warte auf einen günstigen Augenblick. Es gibt gar nicht so viele Möglichkeiten, die Dinge darzulegen. Einerseits gibt es die Wahrheit. Wie sie ist. Andererseits eine Inszenierung, eine List, um glauben zu machen, No sei nicht, was sie ist. Ich denke mir verschiedene Varianten aus: No ist die Cousine einer Klassenkameradin, sie kommt vom Land und sucht eine Au-pair-Stelle, um ihre Ausbildung abschließen zu können. No ist Assistentin an unserer Schule und sucht ein Zimmer. No ist gerade von einem langen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt. Ihre Eltern sind mit meiner Französischlehrerin Madame Rivery befreundet. No ist die Tochter des Direktors, und der hat sie rausgeschmissen, weil sie die Prüfungen nicht bestanden hat. Aber wie ich die Sache auch drehe und wende, ich stoße immer wieder auf dasselbe Problem: In dem Zustand, den No jetzt erreicht hat, kann sie keine Rolle mehr spielen. Ein heißes Bad und neue Kleider werden nicht reichen.
Eines Abends nehme ich mein Herz in beide Hände, wir sitzen beim Abendessen, meine Mutter hat sich ausnahmsweise nicht ins Bett gelegt, kaum dass es dunkel geworden ist, sie isst mit uns, jetzt oder nie. Ich sage gleich, was ich vorhabe. Ich habe eine große Bitte an sie. Sie dürfen mich nicht unterbrechen. Unter keinen Umständen. Sie müssen mich ausreden lassen. Ich habe eine dreiteilige Argumentation vorbereitet, wie Madame Rivery es uns beigebracht hat, mit einer Einleitung vorneweg, um das Thema vorzustellen, und einer Schlussfolgerung auf zwei Ebenen (man muss eine Frage stellen, die zu einer neuen Erörterung, einer neuen Perspektive führt).
In groben Linien sieht der Plan so aus:
Einleitung: Ich habe ein achtzehnjähriges Mädchen kennengelernt, das auf der Straße und in Unterkünften lebt. Sie braucht Hilfe (gleich aufs Wesentliche kommen, ohne Umschweife und Verbrämungen).
Römisch I (These): Sie könnte bei uns wohnen, bis sie wieder bei Kräften ist und Arbeit gefunden hat (ich habe konkrete Argumente und praktische Vorschläge in petto). Sie würde im Arbeitszimmer schlafen und sich an den im Haushalt anfallenden Arbeiten beteiligen.
Römisch II (Antithese: Man führt selbst die Gegenargumente an, um sie desto besser entkräften zu können): Ja, gewiss, es gibt Institutionen, die auf dergleichen spezialisiert sind, es gibt Sozialarbeiterinnen, es ist nicht unbedingt unsere Aufgabe, eine Person in solcher Lage aufzunehmen, es ist komplizierter, als man denkt, wir kennen sie nicht, wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.
Römisch III (Synthese): In Frankreich gibt es mehr als zweihunderttausend Obdachlose, die sozialen Dienste sind dem nicht gewachsen. Allnächtlich schlafen Tausende draußen. Es ist kalt. Und in jedem Winter sterben Menschen auf der Straße.
Schlussfolgerung: Was hindert uns an einem Versuch? Was befürchten wir, warum haben wir den Kampf aufgegeben? (Madame Rivery sagt mir oft, meine Schlussfolgerungen seien ein wenig pathetisch, aber manchmal heiligt der Zweck die Mittel.)
Ich habe meinen Vortrag in ein Heft geschrieben und die wesentlichen Punkte rot unterstrichen. Und ich habe vorm Badezimmerspiegel geübt, mit ruhiger Stimme und gemäßigten Handbewegungen.
Wir sitzen vor einer Pizza von Picard, deren Verpackung ich schon sichergestellt habe, die Vorhänge sind zugezogen, die Stehlampe des Wohnzimmers umgibt unsere Gesichter mit einem orangefarbenen Schein. Wir sind in einer Pariser Wohnung im fünften Stock, bei geschlossenen Fenstern, wir haben ein Obdach, sind geborgen. Ich fange an zu sprechen und verliere sehr bald den Faden, ich vergesse den Plan, ich lasse mich von meinem Wunsch, sie zu überzeugen,
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