No & ich: Roman (German Edition)
sie.
»Und wie war dein Referat?«
Ich erzähle ihr, wie sehr ich mich vor der ganzen Klasse gefürchtet habe, wie meine Stimme anfangs gezittert hat und danach dann gar nicht mehr, denn es war, als wäre sie bei mir gewesen, als hätte sie mir die nötige Kraft gegeben, und dann die Erleichterung, als es vorbei war, der Applaus und all das.
»Und Lucas, du weißt schon, der Junge, von dem ich dir erzählt habe, also er hat mich mindestens zweimal eingeladen, nach der Schule mit zu ihm zu gehen, und außerdem will er, dass ich mit ihm auf die Schlittschuhbahn gehe, aber jedes Mal drücke ich mich, ich weiß irgendwie nicht, was ich tun soll.«
Sie mag es, wenn ich ihr Geschichten erzähle, sie ist wie ein ganz kleines Mädchen, ich merke genau, dass sie wirklich zuhört, vielleicht weil es sie an die Zeit erinnert, als sie noch zur Schule ging, ihre Augen glänzen, also rede ich, ich erzähle ihr von Lucas, dass er zweimal sitzengeblieben ist, dass er Opinel-Messer sammelt, schwarzes Haar hat und eine Narbe über dem Mund, eine weiße Narbe, die schräg zu seiner Lippe hinunter verläuft, ich erzähle von seiner Stofftasche mit den Marker-Aufschriften, die ich nicht verstehe, von seiner Frechheit in der Schule, von seinen heftigen Ausbrüchen und von dem Tag, an dem er alles auf den Boden geworfen hat, die Bücher, den Tisch, die Stifte und alles, und wie er dann den Klassenraum verlassen hat, wie ein König, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich spreche über Lucas, über seine siebzehn Jahre, über seinen Körper, der so schwer wirkt, so dicht, und über seine Art, mich anzusehen, als wäre ich eine verirrte Ameise, über seine leeren Aufgabenblätter und meine hervorragenden Noten, seine drei Tage Ausschluss vom Unterricht und meine als Beispiel hingestellten Hausaufgaben, seine Freundlichkeit mir gegenüber, obwohl ich doch das absolute Gegenteil von ihm bin.
»Und du, warst du schon mal in einen Jungen verliebt?«
»Hm ja, als ich etwa in deinem Alter war. Ich war auf einem Internat in Frenouville. Wir waren nicht in derselben Klasse, aber abends haben wir uns getroffen. Statt in den Hausaufgabenraum zu gehen, trieben wir uns draußen rum und setzten uns unter die Bäume, sogar im Winter.«
»Wie hieß er?«
»Loïc.«
»Und dann?«
»Was, dann?«
»Na … Was geschah dann?«
»Das erzähl ich dir ein andermal.«
Sie redet nicht gern. Es gibt immer einen Augenblick, an dem Schluss ist. Oft auf die gleiche Art: Nicht heute. Ein andermal.
»Warst du traurig deshalb?«
»Ein andermal, hab ich gesagt.«
»Ich wollte dich was fragen. Weißt du, in welche Richtung man die Zunge dreht, wenn man einen Jungen küsst?«
Erst macht sie große Augen, sehr, sehr große Augen. Und dann lacht sie. So habe ich sie noch nie lachen sehen. Da lache ich auch. Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich den Kellner herbeiwinken und Champagner! rufen, ich würde in die Hände klatschen und Petit Fours kommen lassen, wie die auf der Hochzeit meiner älteren Cousine, Unmengen von Petit Fours, wir würden die Musik in der Brasserie auf volle Lautstärke stellen und auf den Tischen tanzen, wir würden alle zum Mitfeiern einladen, No würde sich auf der Toilette umziehen, sie würde ein schönes Kleid anziehen und hübsche Schuhe, wir würden die Türen schließen, um unsere Ruhe zu haben und alles dunkel zu machen, wir würden die Musik aufdrehen wie in dem Lied.
»Du stellst vielleicht Fragen! Beim Küssen gibt es keine vorgeschriebene Richtung, wir sind doch keine Waschmaschinen!«
Sie lacht noch ein wenig, und dann fragt sie mich, ob ich nicht ein Papiertaschentuch habe, ich gebe ihr das Päckchen.
Sie sieht auf die Uhr in der Brasserie und springt auf, in ihrem Heim muss man bis 19 Uhr zurück sein, sonst wird man nicht mehr eingelassen. Ich gebe ihr mein restliches Geld für die Metrokarte. Sie lehnt es nicht ab.
Wir gehen zusammen zur Metro hinunter, unten an der Rolltreppe müssen wir uns trennen. Ich sage, ich fände es schön, wenn du mich noch einmal besuchen kämst, wenn du kannst. Es ist nicht mehr so schwer zu sagen. Sie lächelt.
»In Ordnung.«
»Versprichst du’s?«
Sie streicht mir übers Haar, rasch, wie man es bei Kindern macht.
U nd wenn No zu uns käme? Und wenn wir beschlössen, uns gegen das zu stellen, was man tut oder nicht tut, wenn wir beschlössen, dass die Dinge anders sein können, auch wenn es sehr schwierig ist und immer schwieriger, als man denkt. Das ist die Lösung. Die einzige.
Weitere Kostenlose Bücher