No & ich: Roman (German Edition)
brauche nur über die Straße zu gehen. Man sieht von weitem, dass sie schmutzig ist, auf ihrer Jeans sind schwarze Flecken, ihr Haar klebt strähnig zusammen. Ich bleibe reglos stehen, mehrere Minuten lang, die anderen Schüler rempeln mich an, wie in einem Strudel höre ich ringsum Mofageknatter, Lachen und laute Stimmen. Ich stehe da. Ihr gegenüber. Irgendetwas hält mich zurück. Dann sehe ich ihre geschwollenen Augen, die dunklen Spuren auf ihrem Gesicht, ihre Unsicherheit, und mit einem Mal ist in mir keine Bitterkeit mehr, kein Groll, nur noch der Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Ich gehe hinüber. Ich sage, komm. Sie folgt mir zur Bar Botté. Die Leute schauen uns an. Die Leute schauen uns an, weil No auf der Straße lebt und weil man das so deutlich sieht wie die Nase im Gesicht.
Sie spricht mit gesenktem Kopf, die Hände um ihre Tasse gelegt, sie sucht Wärme, auch wenn die Gefahr besteht, dass sie sich die Handflächen verbrennt. Sie schläft in einer Notunterkunft im Val-de-Marne, man hat sie dort für vierzehn Tage aufgenommen. Jeden Tag ist sie um acht Uhr dreißig wieder draußen. Für den ganzen Tag. Sie muss die Zeit totschlagen. Gehen, damit sie nicht friert. Eine geschützte Stelle finden, um sich hinzusetzen. Ganz Paris durchqueren, um eine warme Mahlzeit zu bekommen. Eine Fahrkarte lösen. Warten. Wieder weggehen. Vor einem Geschäft oder in der Metro um Geld betteln. Wenn sie die Kraft hat. Die Kraft, bitte zu sagen. Sie muss bald eine andere Unterkunft finden. Das ist ihr Leben. Von Heim zu Heim ziehen. Möglichst lange aushalten. Die Fristen verlängern. Etwas zu essen auftreiben. Möglichst nicht auf der Straße schlafen. Sie hat versucht, Arbeit zu finden. In den Fastfood-Ketten, den Bars, den Restaurants, den Supermärkten. Doch ohne Adresse oder die Adresse eines Heims ist die Antwort immer dieselbe. Da ist nichts zu machen. Keine Anschrift, kein Job. Sie hat aufgegeben. Sie hätte nie gedacht, dass ihr Leben so beschissen verlaufen würde, als Kind wollte sie Friseuse werden, den Leuten die Haare waschen und färben und später einen eigenen Friseursalon aufmachen. Aber sie hat nichts gelernt, weder das noch sonst etwas, sie hat nichts gelernt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, sagt sie, verstehst du, ich weiß es einfach nicht.
Sie schweigt einige Minuten lang, ihr Blick verliert sich im Vagen. Ich würde alles darum geben, meine Bücher, meine Lexika, meine Klamotten, meinen Computer, damit sie ein richtiges Leben hat, mit einem Bett, einer Wohnung und Eltern, die auf sie warten. Ich denke an Gleichheit und Brüderlichkeit, an all die Sachen, die wir in der Schule lernen und die es nicht gibt. Man sollte den Leuten nicht einreden, sie könnten gleich sein, hier oder sonst wo. Meine Mutter hat recht. Das Leben ist ungerecht, mehr ist dazu nicht zu sagen. Meine Mutter weiß etwas, das man nicht wissen sollte. Und deshalb ist sie berufsunfähig, das steht in ihren Versicherungsunterlagen, sie weiß etwas, das sie am Leben hindert, etwas, das man erst wissen sollte, wenn man sehr alt ist. Man lernt, Unbekannte in Gleichungen auszurechnen, abstandsgleiche Geraden zu zeichnen und geometrische Lehrsätze zu beweisen, aber im echten Leben gibt es nichts einzusetzen, zu berechnen und zu erraten. Das ist wie mit dem Tod von Babys. Es ist ein Schmerz und weiter nichts. Ein großer Schmerz, der sich nicht in Wasser auflöst, auch nicht in Luft, eine Art fester Stoff, der allem standhält.
No sieht mich an, ihre Haut ist grau und trocken geworden wie die der anderen, bei ihrem Anblick ist mir, als wäre sie am Ende angekommen, am Ende dessen, was man ertragen kann, am Ende des menschlich Hinnehmbaren, mir ist, als könnte sie sich nie wieder aufrichten, als könnte sie nie wieder hübsch und sauber sein, und dennoch lächelt sie und sagt, ich freue mich, dich zu sehen.
Ich sehe ihre Lippen zittern, es dauert kaum eine Sekunde, sie senkt den Blick, und obwohl ich nicht immer an Gott glaube, bete ich in meinem Kopf mit aller Kraft, dass sie nicht weint, denn wenn sie zu weinen anfängt, fange ich auch an, und wenn ich einmal anfange, kann es Stunden dauern, es ist wie ein Damm, der unter dem Druck des aufgestauten Wassers bricht, eine Sintflut, eine Naturkatastrophe, und Weinen hilft sowieso nie. Sie schabt mit dem Löffelchen den Zucker vom Tassenboden, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, sie hat es überwunden, ich sehe es an der Art, wie sie die Zähne zusammenbeißt, ich kenne
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