No & ich: Roman (German Edition)
fortreißen, von meinem Wunsch, No bei uns zu sehen, auf einem unserer Stühle, auf unserem Sofa, wie sie aus unseren Tassen trinkt, von unseren Tellern isst, ich weiß auch nicht warum, aber ich denke an Goldlöckchen im Bärenhaus, obwohl No schwarzes glattes Haar hat, ich denke an das Buch, das mir meine Mutter vorlas, als ich klein war, Goldlöckchen hat alles kaputtgemacht, Tasse, Stuhl und Bettchen, das Bild taucht immer wieder auf, ich fürchte, mir könnten die Worte ausgehen, also rede ich ganz schnell, ohne irgendetwas richtig auszuführen, ich rede lange, ich glaube, ich erzähle, wie ich No kennengelernt habe, das bisschen, was ich von ihr weiß, ich rede über ihr Gesicht, ihre Hände, den schlingernden Rollenkoffer, über ihr seltenes Lächeln. Sie hören mir bis zum Schluss zu. Dann kommt nichts. Lange nichts.
Und dann die Stimme meiner Mutter, die noch seltener zu erleben ist als Nos Lächeln, ihre plötzlich helle Stimme.
»Wir sollten sie kennenlernen.«
Mein Vater hebt verblüfft den Kopf. Die Pizza ist kalt, ich forme aus dem Bissen in meinem Mund eine speichelgetränkte Kugel und zähle bis zehn, bevor ich sie herunterschlucke.
In Ordnung, sagt mein Vater, wir sollten sie kennenlernen, wiederholt er.
Also können die Dinge anders sein, also kann das unendlich Kleine groß werden.
I ch wartete auf No, jeden Abend nach der Schule hielt ich nach ihr Ausschau und zögerte den Moment hinaus, in dem ich die Metro nach Hause nehmen würde, ich spähte nach ihrer aus dem Gleichgewicht geratenen Gestalt, nach ihrem schleppenden Gang. Ich gab die Hoffnung nicht auf.
Heute Abend ist sie da. Sie hatte es versprochen. Die Januarkälte schneidet in die Haut. Sie hat die Notunterkunft verlassen, in der sie geschlafen hatte, man hat ihr andere Adressen und Empfehlungsschreiben gegeben, doch sie muss warten, bis ein Platz frei wird. Sie ist zu ihrem Kumpel in der Rue de Charenton zurückgekehrt, er hat sie für mehrere Nächte aufgenommen, doch neben ihnen haben sich andere mit ihren Zelten niedergelassen, weil die Ecke gut geschützt ist, und dann haben sie angefangen, Dummheiten zu machen, zu allen möglichen Zeiten Radio gehört und sie ficken wollen. In einem Zug erzählt sie mir all das, da auf dem Bürgersteig, sie sagt mich ficken, wie sie es zu einem Erwachsenen gesagt hätte, und ich bin stolz darauf, dass sie mich nicht wie ein Kind behandelt, denn ich weiß genau, was das Wort bedeutet, und kenne den Unterschied zu anderen Wörtern, die dasselbe bedeuten, ich weiß, dass die Wörter ihr eigenes Gewicht und ihre Nuancen haben.
Ich kann sie in diesem Zustand nicht mit nach Hause nehmen. Sie muss sich waschen und andere Kleidung auftreiben. Um diese Zeit ist meine Mutter in der Wohnung, und No muss wenigstens halbwegs präsentabel sein. Denn da bin ich mir sicher, selbst wenn meine Eltern ja gesagt haben, ein erster Eindruck kann alles verderben. Und deshalb geht alles sehr schnell, trotz allem, was mich sonst auf Distanz hält, wenn etwas getan, etwas in Angriff genommen werden muss, denn oft strömen die Worte und Bilder in meinen Kopf und lähmen mich, doch diesmal muss alles in eine Richtung gehen, ohne Kollisionen, ohne Verzettelung, jetzt muss ein Schritt auf den anderen folgen, ohne dass ich mich lange frage, ob man lieber mit dem linken oder dem rechten Fuß anfangen sollte. (Einmal hat Madame Cortance, die Psychologin, meinem Vater gesagt, intellektuell frühreife Kinder hätten eine große Fähigkeit, Konzepte zu entwickeln und die Welt zu erfassen, doch in relativ einfachen Situationen seien sie unter Umständen völlig hilflos. Das erschien mir wie eine schwere Krankheit, eine starke Behinderung, die ich nie würde überwinden können.)
Ich sage No, sie solle auf mich warten, sich nicht von der Stelle rühren, ich glaube, ich spreche zum ersten Mal in einem solchen Ton mit ihr, so kategorisch. Sie hat keine Kraft mehr. Nicht mehr die Kraft, zu protestieren, nein zu sagen. Ich überquere noch einmal die Straße, packe Lucas am Arm, unter normalen Umständen würde ich so etwas niemals tun, aber manchmal zwingen die Umstände einen eben, vor einigen Tagen hat er mir erzählt, er lebe fast allein in einer Fünfzimmerwohnung. Sein Vater ist nach Brasilien gezogen und schickt Geld. Seine Mutter übernachtet selten zu Hause, sie hinterlässt ihm Botschaften auf gelben Klebezettelchen an der Wohnungstür, sie reagiert nicht, wenn die Lehrer sie zu einem Gespräch bitten, und stellt nur ein
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