No & ich: Roman (German Edition)
ergattern. Wochenlang hat sie zum Schlafen die Schuhe unter dem Kopfkissen versteckt, ihre Taschen zwischen sich und eine Wand geklemmt und ihr Geld und ihren Ausweis in den Slip gesteckt, damit man sie nicht bestiehlt. Sie war auf der Hut, während sie schlief, in Bettwäsche aus Papier, zugedeckt mit dem, was gerade da war, manchmal auch nur mit ihrem Blouson. Wochenlang hat sie frühmorgens auf der Straße gestanden, ohne Plan, ohne Perspektive. Ganze Tage ist sie umhergeirrt in dieser Parallelwelt, die doch unsere Welt ist, immer auf der Suche nach einem Ort, von dem man sie nicht vertreiben würde, einem Ort zum Sitzen oder Schlafen.
Sie versucht, möglichst wenig Platz in Anspruch zu nehmen und möglichst wenig Lärm zu machen, morgens duscht sie rasch und trinkt den Kaffee aus, den mein Vater warmgestellt hat, sie macht kein Licht in der Küche, auf leisen Sohlen streicht sie an den Wänden entlang. Sie antwortet einsilbig und senkt den Blick, außer wenn ich sie ansehe. Einmal, als ich mich neben sie auf ihr Bett setzte, wandte sie sich mir zu und fragte: Jetzt sind wir beide also zusammen? Ich sagte ja, ich wusste nicht recht, was das für sie bedeutete, zusammen sein, das fragt sie oft: Wir sind doch zusammen, Lou, oder? Jetzt weiß ich es. Es bedeutet, dass uns niemals etwas trennen kann, es ist wie ein Pakt zwischen uns, ein Pakt, der keiner Worte bedarf. Nachts steht sie auf, geht durch die Wohnung, lässt Wasser laufen, manchmal habe ich den Eindruck, dass sie mehrere Stunden lang wach bleibt, ich höre die Tür zum Gang, ihren leichten Schritt auf dem Teppichboden. Eines Nachts überraschte ich sie, sie stand dicht an dem großen Wohnzimmerfenster und betrachtete vom fünften Stock aus die riesige Stadt, diese unglaubliche Dunkelheit, die roten und weißen Lichter der Autos, ihre Bahnen, den Schein der Straßenlampen und der anderen Lichtpunkte, die man in der Ferne tanzen sah.
Lucas erwartet mich vor dem Schultor. Er trägt seine Lederjacke und ein schwarzes Stirnband, damit ihm das Haar nicht in die Augen fällt, sein Hemd ist länger als der Pullover, er ist riesig.
»Na, Krümel, wie läuft’s?«
»Sie kommt selten aus ihrem Zimmer, aber ich glaube, sie bleibt.«
»Und deine Eltern?«
»Sie sind einverstanden. Sie wird wieder zu Kräften kommen, und dann, wenn es ihr bessergeht, kann sie Arbeit suchen.«
»Manche Leute sagen, Menschen, die auf der Straße leben, wären kaputt. Nach einiger Zeit könnten sie nicht mehr normal leben.«
»Es ist mir egal, was man sagt.«
»Ich weiß, aber …«
»Genau, das ist das Problem, die Abers. Wegen der Abers tut man nie was.«
»Du bist ganz klein, und du bist ganz groß, Krümel, und du hast vollkommen recht.«
Wir gehen in den Mathe-Raum, die anderen sehen uns an, vor allem Axelle und Léa, Lucas setzt sich neben mich in die zweite Reihe.
Nach den Ferien hat er seinen Platz in der letzten Reihe aufgegeben, um mir Gesellschaft zu leisten. Anfangs haben die Lehrer mit ihrer Überraschung nicht hinterm Berg gehalten, Lucas musste alle möglichen Vorhaltungen und Warnungen über sich ergehen lassen, na so was, Monsieur Muller, da sieht man Sie ja in nützlicher Nachbarschaft, vielleicht färbt etwas von Mademoiselle Bertignacs Arbeitshaltung auf Sie ab, nutzen Sie die Chance und legen Sie sich ein entsprechendes Benehmen zu, aber lassen Sie sich nicht von den Arbeiten Ihrer Nachbarin inspirieren, Sie werden sehen, dass die Luft hier auch nicht schlechter ist als in der letzten Reihe.
Doch Lucas hat deshalb keineswegs seine Gewohnheiten geändert. Er schreibt im Unterricht selten mit, er vergisst, sein Handy auszuschalten, hängt krumm auf seinem Stuhl, streckt demonstrativ seine Beine in den Gang, putzt sich geräuschvoll die Nase. Aber er kippt nie mehr den Tisch um.
Die anderen behandeln mich seither mit einer Art Respekt, selbst Axelle und Léa grüßen mich und lächeln mir zu. Ich höre kein ersticktes Lachen und Tuscheln mehr, wenn ich auf eine Frage antworten muss, die vorher niemand beantworten konnte, ich bemerke keine Blickwechsel mehr, wenn ich als Erste meinen Test fertig habe und der Lehrer mein Heft einsammelt.
Er ist der König, der Lässige, der Rebell, ich bin die Klassenbeste, gelehrsam und still. Er ist der Älteste, ich bin die Jüngste, er ist der Größte, und ich bin winzig.
Abends nehmen wir gemeinsam die Metro oder den Bus, er bringt mich bis vor das Haus, in dem wir wohnen, ich will nicht trödeln, wegen No. Für
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