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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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nichts.

A xelle Vernoux hat sich das Haar sehr kurz schneiden lassen, mit einer längeren und helleren Strähne vorn, sie ist die Attraktion des Tages, lachend steht sie mit Léa unter dem Vordach, sie sind von Jungs umringt, der Himmel ist blau, die Kälte eisig. Es wäre einfacher, wenn ich wäre wie sie, wenn ich hautenge Jeans trüge, Glücksbringer-Armbänder, BHs und so. Nun gut.

    Wir haben uns still auf unsere Plätze gesetzt. Monsieur Marin ruft jeden Namen einzeln auf und macht nach einem prüfenden Blick ein Kreuzchen. Er kommt zum Schluss.
    »Pedrazas … anwesend, Réviller … anwesend, Vandenbergue … anwesend, Vernoux … fehlt.«
    Axelle zeigt auf.
    »Aber Monsieur Marin, ich bin doch da!«
    Er betrachtet sie mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck.
    »Ich kenne Sie nicht.«
    Sie zögert kurz, ihre Stimme zittert.
    »Ich bin’s, Axelle Vernoux.«
    »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

    Ein Beben geht durch die Klasse. Tränen steigen ihr in die Augen, sie senkt den Kopf. Ich hasse es, wenn man Menschen demütigt, einfach so, ohne jeden Grund. Ich lehne mich ein wenig in Lucas’ Richtung und sage, das ist ekelhaft, und diesmal will ich genau das sagen.
    »Mademoiselle Bertignac, haben Sie uns etwas mitzuteilen?«
    Eine Zehntelsekunde zum Nachdenken. Mehr nicht. Eine Zehntelsekunde zum Entscheiden. Ich bin weder mutig noch kühn, ein Zehn-Minuten-Zurückspul- Knopf wär mir jetzt eine echte Hilfe.
    »Ich sagte: Das ist ekelhaft. Sie hatten kein Recht dazu.«
    »Sie können sich im Aufgabenraum weiter zur Richterin aufschwingen, Mademoiselle Bertignac. Packen Sie Ihre Sachen.«
    Einen Abgang darf man sich nicht verderben. Das ist wirklich nicht der rechte Moment, sich irgendwie zu verheddern.
    Ich räume alles zusammen und zähle meine Schritte bis zur Tür, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, uff, jetzt bin ich draußen, ich lebe noch, ich bin viel größer, als man auf den ersten Blick meint.

    Nach dem Unterricht hält mich Axelle am Arm zurück und sagt danke, es dauert nur eine Sekunde, aber sie reicht, alles steht in ihren Augen.
    No erwartet mich vor dem Schultor, wir wollen heute zu Lucas gehen, sie trägt einen grünen Pullover, den meine Mutter ihr geliehen hat, und hat ihr Haar mit einer Spange zum Pferdeschwanz zusammengenommen, ihre Haut ist wieder glatt geworden, sie ist hübsch. Lucas kommt zu uns und beglückwünscht mich zu meinem Abgang, er umarmt No wie eine Freundin, das gibt mir einen kleinen Stich, und dann gehen wir alle drei zur Metro.

    Überall Bilder, persische Teppiche, alte Möbel, das Wohnzimmer ist riesig, nichts ist dem Zufall überlassen, alles ist wunderschön, und doch wirkt jedes Zimmer verlassen, wie eine Filmkulisse, als wäre alles nur Attrappe. Eines Abends im letzten Jahr fand Lucas, als er aus der Schule nach Hause kam, einen Brief seines Vaters vor. Der hatte wochenlang seine Abreise vorbereitet, ohne ihm etwas zu sagen, und dann eines Morgens den Koffer zugeklappt, die Schlüssel in der Wohnung gelassen und die Tür hinter sich zugezogen. Lucas’ Vater hat sich ins Flugzeug gesetzt und ist seither nicht zurückgekommen. In dem Brief stand, er bitte um Verzeihung und Lucas werde es später verstehen. Vor einigen Monaten hat Lucas’ Mutter einen anderen Mann kennengelernt, Lucas hasst ihn, er gehört wohl zu den Typen, die sich nie entschuldigen, aus Prinzip nicht, und meinen, alle anderen seien Knallköpfe, mehrere Male wären die beiden fast aufeinander losgegangen, deshalb ist seine Mutter zu ihm nach Neuilly gezogen. Sie telefoniert mit Lucas und verbringt ab und zu ein Wochenende in der Wohnung. Sein Vater schickt Geld und Postkarten aus Brasilien. Lucas führt uns durch die Wohnung, No folgt ihm, sie stellt ihm Fragen, wie er das mit dem Essen regle, wie er ganz allein in einer so großen Wohnung leben könne, ob er nie Lust habe, auch dorthin zu fahren, nach Rio de Janeiro.

    Lucas zeigt uns Fotos seines Vaters, aus sämtlichen Lebensphasen, ein Buddelschiff, das sie zusammen gebastelt haben, als er klein war, die japanischen Drucke, die er dagelassen hat, und seine Messersammlung. Es sind Dutzende, kleine, große, mittlere, Taschenmesser, Dolche, Springmesser aus aller Herren Länder, Kris-Messer, Messer aus Laguiole und Thiers, die Griffe liegen schwer in der Hand, die Klingen sind scharf geschliffen. No nimmt sie eins nach dem anderen heraus, spielt mit ihnen, streichelt über Holz, Elfenbein, Horn und Stahl. Ich sehe deutlich, dass Lucas

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