No & ich: Roman (German Edition)
sie gibt er mir Comics, Schokolade und eine Schachtel mit ein paar Zigaretten, die sie am offenen Fenster raucht. Er fragt mich, was sie macht, sorgt sich um ihre Gesundheit, sagt, wir sollen ihn besuchen, wenn es ihr bessergeht.
Wir teilen ein Geheimnis.
S eit einigen Tagen beginnt sie, das Zimmer zu verlassen, und interessiert sich für das, was bei uns vor sich geht. Sie bietet meiner Mutter an, einkaufen zu gehen, den Müll runterzubringen und beim Kochen zu helfen. Sie lässt ihre Tür offen, macht ihr Bett, räumt die Küche auf, saugt Staub und sieht sich mit uns zusammen die Fußballspiele im Fernsehen an. Tagsüber geht sie manchmal aus dem Haus, sie ist aber immer vor neunzehn Uhr zurück.
Wenn ich nach der Schule zu Hause bin, kommt sie zu mir, sie legt sich auf den Teppich, während ich Hausaufgaben mache, und blättert in einer Zeitschrift oder in einem Comic, oder aber sie liegt einfach mit weit offenen Augen unter den phosphoreszierenden Sternen des künstlichen Himmels an meiner Zimmerdecke, ich beobachte, wie sich ihre Brust im Rhythmus ihres Atmens hebt, ich versuche, auf ihrem Gesicht die Wege ihrer Gedanken zu verfolgen, aber es ist nichts zu sehen, nie.
Bei Tisch beobachtet sie, wie ich esse, ich erkenne deutlich, dass sie versucht, nicht aus dem Rahmen zu fallen, sie stützt ihre Ellbogen nicht auf den Tisch, sie hält sich gerade, sie versucht, mir an den Augen abzulesen, ob ich es richtig finde, ich bin sicher, niemand hat ihr je beigebracht, wie man Messer und Gabel hält, dass man die Sauce nicht mit dem Brot aufstippt, den Salat nicht schneidet und all das, dabei bin ich selbst nicht gerade vorbildlich darin, obwohl mir meine Großmutter unbedingt gutes Benehmen beibringen will, wenn ich in den Ferien bei ihr bin. Neulich habe ich No die herrliche Geschichte erzählt, die mir letzten Sommer bei meiner Tante Yvonne passiert ist, sie ist die Schwester meiner Großmutter und hat den Sohn eines echten Herzogs geheiratet und so. Meine Großmutter hat mich zum Tee dorthin mitgenommen, drei Tage lang hat sie mich mit Ratschlägen überhäuft, sie hat mir extra ein schreckliches Kleid gekauft, im Auto gab sie mir die letzten Anweisungen, und schließlich kamen wir vor dem schönen Haus an. Yvonne hatte kleine Madeleines und Mandelplätzchen gebacken. Ich trank meinen Tee mit abgespreiztem kleinen Finger, was meiner Großmutter nicht besonders zu gefallen schien, aber ich saß, wie sie es mir gezeigt hatte, auf der Kante des Samtsofas und hielt die Beine eng nebeneinander, jedoch nicht übergeschlagen, es war ganz schön schwierig, die Plätzchen mit Tasse und Untertasse in der Hand zu essen, ohne auf den Teppich zu krümeln. Irgendwann wollte ich (wie meine Großmutter gesagt hätte) meinen kleinen Tribut zollen, es war nicht leicht, bei einer so feierlichen Angelegenheit das Wort zu ergreifen, aber ich fasste mir ein Herz. Ich wollte sagen: Tante Yvonne, das ist köstlich. Ich weiß auch nicht, was passiert ist, eine Art Kurzschluss im Gehirn, ich holte tief Luft und sagte dann ruhig und sehr deutlich:
»Tante Yvonne, das ist e-kel-haft.«
No hat so gelacht, als ich es ihr erzählte. Sie wollte wissen, ob ich ausgeschimpft worden bin. Doch Tante Yvonne hatte erkannt, dass es eine Fehlschaltung gewesen war oder an der Aufregung gelegen hatte, sie lachte nur ein bisschen, es klang wie ein Hüsteln.
Es ist, als wäre No immer schon da gewesen. Wir sehen, wie sie von Tag zu Tag kräftiger wird. Wir sehen, wie sich ihr Gesicht verändert. Und auch ihr Gang. Wie sie den Kopf hebt, sich aufrechter hält, ihren Blick auf etwas verweilen lässt.
Wir hören sie beim Fernsehen lachen und in der Küche die Lieder mitsummen, die im Radio gesendet werden.
No ist bei uns. Draußen herrscht nun Winter, die Leute beeilen sich auf der Straße, sie lassen die schweren Eingangstüren hinter sich zufallen, tippen Codes ein, drücken auf die Knöpfe der Sprechanlagen, stecken ihren Schlüssel ins Schloss.
Draußen schlafen Frauen und Männer, in ihre Schlafsäcke vermummt, unter Pappkartons, an den Lüftungsschächten der Metro, unter Brücken, auf dem Boden, draußen schlafen Frauen und Männer in den Winkeln einer Stadt, aus der sie ausgeschlossen sind. Ich weiß, dass sie manchmal daran denkt, aber wir sprechen nie darüber. Abends überrasche ich sie manchmal am Fenster, sie hat die Stirn an die Scheibe gelehnt und betrachtet die Nacht, und ich weiß nicht, was ihr durch den Kopf geht, ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher