No & ich: Roman (German Edition)
ihren buntgestreiften Pullover und eine schwarze Hose angezogen. Sie stellten keine Fragen, sie verhielten sich so, als wäre all das das Natürlichste auf der Welt, meine Mutter blieb bis zum Ende der Mahlzeit bei uns. Zum ersten Mal seit langer Zeit schien mir, dass sie wirklich da war, nicht nur wie eine Statistin, sie war ganz und gar da. Wir sprachen über alles Mögliche, mein Vater erwähnte die Dienstreise nach China, die er bald machen würde, und erzählte von einer Sendung über Schanghai, die er im Fernsehen gesehen hatte. No hatte mit alldem wahrscheinlich nichts am Hut, weder mit Shanghai noch mit dem Hund der Hausmeisterin, der in dem Beet in unserem Hof andauernd nach imaginären Knochen gräbt, noch mit dem Ablesen der Stromzähler, aber das war unwichtig. Wichtig war, dass sie sich wohlfühlte, dass sie sich nicht beobachtet fühlte. Und ausnahmsweise schien es zu funktionieren wie bei den Familienmahlzeiten in den Werbespots für Fertiggerichte, wo die Gespräche ohne falschen Ton, ohne jedes Stocken dahinfließen, es gibt immer jemanden, der im rechten Moment etwas einwirft, niemand wirkt müde oder sorgenbeladen, es entsteht kein Schweigen.
No dürfte vierzig Kilo wiegen, sie ist achtzehn und sieht wie höchstens fünfzehn aus, ihre Hände zittern, wenn sie das Glas zum Mund führt, ihre Fingernägel sind bis ins Fleisch abgekaut, die Haare fallen ihr in die Augen, ihre Bewegungen sind ungeschickt. Sie gibt sich Mühe, aufrecht zu bleiben. Sitzen zu bleiben. Einfach durchzuhalten. Wie lange mag sie nicht mehr in einer Wohnung gegessen haben, ohne Eile, ohne dem Nächsten den Platz räumen zu müssen, wie lange hat sie sich keine Stoffserviette mehr in den Schoß gelegt und frisches Gemüse gegessen? Nur das zählt. Der Rest kann warten.
Nach dem Essen klappte mein Vater das Sofa im Arbeitszimmer aus. Er holte Bettwäsche und eine dicke Decke aus dem Wandschrank im Flur. Er kam noch ein letztes Mal zu uns zurück und wandte sich an No, um ihr zu sagen, dass ihr Bett fertig sei.
Sie sagte danke und blickte zu Boden.
Ich weiß, manchmal ist es besser, so zu bleiben, in seinem Innern und verschlossen. Denn ein Blick kann genügen, und man gerät ins Schwanken, es muss nur jemand die Hand ausstrecken, und man spürt plötzlich, wie schwach man ist, wie verwundbar, und dann bricht alles zusammen wie eine Streichholzpyramide.
Es gab kein Verhör, kein Misstrauen, keinen Zweifel, keinen Rückzieher. Ich bin stolz auf meine Eltern. Sie hatten keine Angst. Sie haben getan, was zu tun war.
No liegt im Bett, ich mache das Licht aus, ich schließe die Tür des Arbeitszimmers, für sie beginnt ein neues Leben, da bin ich sicher, ein Leben mit Obdach, und ich werde immer da sein, an ihrer Seite, ich will nicht, dass sie sich je wieder ganz allein fühlt, sie soll fühlen, dass ich bei ihr bin.
S ie bleibt in ihrem Zimmer. Bei geschlossener Tür. Meine Mutter hat ihr ein paar Kleidungsstücke geliehen, mein Vater hat seine Sachen aus dem Arbeitszimmer geräumt, damit sie sich ihren Bereich einrichten kann. Sie kommt nur heraus, wenn ich da bin, und schläft praktisch den ganzen Tag. Sie lässt die Vorhänge offen, legt sich vollständig angezogen aufs Bett, mit am Körper entlang ausgestreckten Armen und offenen Handflächen. Ich klopfe leise an die Tür, trete auf Zehenspitzen ein und treffe sie in dieser seltsamen Haltung an, jedes Mal denke ich dann an Dornröschen, das reglos daliegt wie unter Glas und hundert Jahre lang schlafen muss, das blaue Kleid ohne ein Fältchen auf dem Bett ausgebreitet, das Gesicht vom glatten Haar umrahmt. Doch No erwacht, ihre Augen glänzen vom Schlaf, ungläubig lächelnd rekelt sie sich, fragt mich nach der Schule, der Klasse, ich erzähle, und dann gehe ich wieder, um meine Hausaufgaben zu machen, ich schließe die Tür hinter mir.
Später hole ich sie zum Abendessen, sie leert hastig ihren Teller, hilft beim Abräumen, wagt einen kurzen Rundgang durch die Wohnung und legt sich dann wieder hin.
Sie erholt sich.
Wer sie sieht, könnte meinen, sie komme von einer langen Reise zurück, sie habe die Wüste und die Ozeane durchquert und sei barfuß über Bergpfade, am Rande der Landstraßen und durch den Staub unbekannter Länder gelaufen. Sie kehrt von weit her zurück.
Sie kehrt aus unsichtbaren Gebieten zurück, die doch ganz in unserer Nähe liegen.
Wochenlang hat sie Schlange gestanden, um zu essen, ihre Kleider zu waschen, mal hier, mal dort ein Bett zu
Weitere Kostenlose Bücher