No & ich: Roman (German Edition)
fürchtet, sie könne sich verletzen, aber er wagt es nicht, etwas zu sagen, er sieht ihr zu, genau wie ich, sie ist geschickt darin, die Klingen hervorzuzaubern und sie wieder einzuklappen, man könnte meinen, sie hätte es ihr ganzes Leben lang geübt. Sie hat keine Angst. Lucas schlägt schließlich vor, etwas zu essen, und No legt die Messer in ihre Schachteln zurück, ich habe keins davon angerührt.
Wir sitzen am Küchentisch, Lucas hat Gläser aufgedeckt und Kekspackungen und Schokolade hingelegt, ich sehe No an, ihre Handgelenke, die Farbe ihrer Augen, ihre blassen Lippen, ihr schwarzes Haar, sie ist so hübsch, wenn sie lächelt, trotz der Zahnlücke.
Später fläzen wir uns aufs Sofa und hören Musik, der Zigarettenrauch hüllt uns in eine undurchsichtige Wolke, die Zeit bleibt stehen, mir ist, als beschützten uns die Gitarren, als gehörte uns die Welt.
A uf den Rat meines Vaters hin ist No wieder zu der Sozialarbeiterin gegangen, die für sie zuständig ist. Sie hat Verschiedenes mit den Behörden geregelt und geht zweimal pro Woche in eine Tageseinrichtung, die sich um die Wiedereingliederung junger Frauen aus besonders schwierigen Verhältnissen bemüht. Dort kann sie telefonieren, fotokopieren und einen Computer benutzen. Es gibt eine Cafeteria, und fürs Mittagessen bekommt sie Gutscheine für die umliegenden Restaurants. Sie hat angefangen, Arbeit zu suchen.
Mein Vater hat ihr einen Zweitschlüssel machen lassen, sie kommt und geht nach Belieben und isst oft bei Burger King, weil sie dort die Essensgutscheine ausbezahlt bekommt und sich so ihren Tabak selbst kaufen kann, sie antwortet auf Anzeigen, geht in Geschäfte und kommt immer früh nach Hause.
Sie verbringt ziemlich viel Zeit mit meiner Mutter und erzählt ihr von der Arbeitssuche, aber auch andere Dinge, denn meiner Mutter gelingt es am besten, sie zum Reden zu bringen. Manchmal stellt man ihr eine Frage, und dann wird ihr Gesicht verschlossen, sie tut so, als hätte sie nichts gehört, manchmal beginnt sie auch zu sprechen, gerade, wenn wir es am wenigsten erwarten, wenn meine Mutter kocht oder Geschirr wegräumt, oder wenn ich neben ihr Hausaufgaben mache, das heißt, wenn wir ihr unsere Aufmerksamkeit nur teilweise widmen können, wenn wir ihr zuhören können, ohne sie anzusehen.
Heute Abend muss mein Vater länger im Büro bleiben, wir drei sitzen in der Küche, meine Mutter putzt Gemüse (was an sich schon ein Ereignis ist), ich blättere in einer Zeitschrift. Meine Mutter stellt Fragen, keine mechanischen Fragen wie vom Tonband, sondern echte Fragen wie jemand, der sich für die Antwort interessiert. Es nervt mich ein wenig, aber No beginnt zu erzählen.
Ihre Mutter ist mit fünfzehn Jahren in einer Scheune vergewaltigt worden. Sie waren zu viert. Sie kamen aus einer Bar, sie fuhr mit dem Fahrrad am Straßenrand, sie zogen sie ins Auto. Als ihr klar wurde, dass sie schwanger war, war es schon zu spät für eine Abtreibung. Ihre Eltern hatten nicht genug Geld für die Reise nach England, wo die gesetzliche Frist noch nicht überschritten gewesen wäre. No kam in der Normandie zur Welt. Suzanne verließ die Schule, als ihr Bauch sichtbar wurde. Sie ist nie wieder hingegangen. Sie erstattete keine Anzeige, um die Schande nicht noch größer zu machen. Nach der Geburt fand sie Arbeit als Putzfrau in einem nahe gelegenen Supermarkt. Sie hat No nie in die Arme genommen. Sie konnte sie nicht berühren. Bis sie sieben Jahre alt war, wurde No von ihren Großeltern aufgezogen. Anfangs zeigte man mit Fingern auf sie und tuschelte hinter ihrem Rücken, man blickte weg, wenn sie vorbeikamen, und sagte seufzend Schlimmes voraus. Ihre Großmutter nahm sie mit zum Markt, sie schickte sie in den Kommunionsunterricht und holte sie von der Schule ab. Sie nahm sie an die Hand, wenn sie über die Straße gingen, sie ging mit stolz erhobenem Kopf. Und dann begannen die Leute zu vergessen. No kann sich nicht mehr erinnern, ob sie immer wusste, dass ihre Mutter ihre Mutter war, auf jeden Fall sagte sie nicht Maman zu ihr. Als No aus dem Kleinkindalter heraus war, weigerte sich ihre Mutter, bei Tisch neben ihr zu sitzen. Gegenüber wollte sie sie auch nicht haben. No musste weit weg sitzen, außerhalb ihres Blickfelds. Suzanne rief No nie bei ihrem Namen, sprach sie nie direkt an, sie zeigte aus der Entfernung auf sie und sagte sie. Abends ging Suzanne mit den Jungs aus der Gegend aus, die Motorräder hatten.
Die Großeltern sorgten für No, als
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