No & ich: Roman (German Edition)
wäre sie ihre eigene Tochter. Sie holten die Kinderkleider und das Spielzeug vom Speicher und kauften ihr Bilderbücher und Lernspiele. Wenn No von ihnen spricht, wird ihre Stimme lauter, sie deutet ein Lächeln an, als würde sie ein Lied voller Erinnerungen hören, ein Lied, das sie verwundbar macht. Sie lebten auf einem Bauernhof, ihr Großvater betrieb Ackerbau und Hühnerzucht. Als Suzanne achtzehn war, lernte sie in einer Disco einen Mann kennen. Er war älter als sie. Seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sie war mit einem Kind schwanger gewesen, das nie zur Welt kam. Er arbeitete in Choisy-le-Roi bei einem Wachdienst, er verdiente Geld. Suzanne war schön, sie trug Miniröcke und hatte langes schwarzes Haar. Er bot ihr an, mit ihr nach Paris zu gehen. Im Sommer darauf zogen sie fort. No blieb auf dem Bauernhof. Ihre Mutter hat sie nie mehr besucht.
Als No mit sechs in die Grundschule kam, starb ihre Großmutter. Eines Tages stieg sie auf die Leiter, um Äpfel zu pflücken, doch in jenem Jahr kochte sie kein Kompott mehr, sie fiel auf den Rücken, wie ein großer Sack Bonbons lag sie da in ihrem geblümten Kittel. Ein Blutfaden rann aus ihrem Mund. Ihre Augen waren geschlossen. Es war heiß. No war es, die die Nachbarin alarmierte.
Der Großvater konnte No nicht bei sich behalten. Er musste sich um die Hähnchen und die Feldarbeit kümmern. Und ein alleinstehender Mann mit einem kleinen Mädchen, so etwas machte man nicht. Also zog No nach Choisy-le-Roi zu ihrer Mutter und dem Mann mit dem Motorrad. Sie war sieben Jahre alt.
Mit einem Schlag verstummt sie. Ihre Hände liegen flach auf dem Tisch, sie schweigt. Ich würde so gern erfahren, wie es weiterging, aber man darf nie etwas erzwingen, das hat meine Mutter schon vor langer Zeit verstanden, sie stellt keine Frage.
Im Verlauf weniger Wochen hat No ihren Platz bei uns gefunden, sie hat wieder Farbe bekommen und wahrscheinlich einige Kilo zugenommen, sie begleitet mich mal hierhin, mal dorthin, hängt Wäsche auf, holt die Post aus dem Briefkasten, raucht auf dem Balkon, beteiligt sich an der Auswahl der DVDs. Wir haben die Zeit vorher schon fast vergessen, die Zeit vor No. Wir können Stunden miteinander schweigen, ich merke genau, sie wartet darauf, dass ich sie einlade mitzukommen, es macht ihr Freude, gemeinsam mit mir den Aufzug zu betreten, mit einem gemeinsamen Auftrag, mit mir einzukaufen, mit mir zurückzukehren, wenn es dunkel wird. Sie ist diejenige, die den Einkaufszettel in die Tasche steckt, eins nach dem anderen ausstreicht und, bevor wir zur Kasse gehen, ein letztes Mal überprüft, ob wir auch nichts vergessen haben – als hinge der Weltfrieden davon ab. Auf dem Rückweg bleibt sie manchmal mitten auf dem Bürgersteig stehen und fragt mich aus heiterem Himmel und ohne erkennbaren Grund:
»Wir sind doch zusammen, Lou, oder?«
Es gibt noch eine weitere Frage, die oft auftaucht und die ich wie die erste mit Ja beantworte, sie will wissen, ob ich ihr vertraue, ob ich Vertrauen zu ihr habe.
Unwillkürlich denke ich an einen Satz, den ich irgendwo gelesen habe, wo genau, weiß ich nicht mehr: Wer sich ständig deines Vertrauens vergewissert, wird es als Erster missbrauchen. Und dann versuche ich, die Worte aus meinem Kopf zu verbannen.
Meine Mutter blättert wieder in Zeitschriften, sie hat sich Bücher aus der Leihbücherei geholt und ein oder zwei Ausstellungen besucht. Sie zieht sich an, sie frisiert und schminkt sich, sie isst jeden Abend mit uns, stellt Fragen, erzählt Anekdoten, ein Abenteuer, das sie tagsüber erlebt hat, eine Beobachtung, sie findet den Gebrauch der Sprache wieder, sie zögert manchmal wie eine Genesende, unterbricht sich, findet den Faden wieder, sie hat Freundinnen angerufen, sich mit ehemaligen Kollegen getroffen und ein paar neue Kleidungsstücke gekauft.
Wenn wir abends am Tisch sitzen, sehe ich den Blick, den mein Vater auf ihr ruhen lässt, diesen ungläubigen, gerührten Blick, der zugleich voller Sorge ist, als hänge all dies, dies so Unerklärliche, an einem seidenen Faden.
E s gibt etwas Lästiges im Leben, etwas, wogegen kein Kraut gewachsen ist: Man kann nicht mit Denken aufhören. Als Kind übte ich mich jeden Abend darin, ich lag im Bett und versuchte, absolute Leere herzustellen, einen nach dem anderen verscheuchte ich die Gedanken, noch bevor sie zu Worten gerinnen konnten, ich zog sie mit der Wurzel aus, vernichtete sie mit Stumpf und Stiel, aber ich stieß immer aufs
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