No & ich: Roman (German Edition)
selbe Problem: daran denken, mit Denken aufzuhören, ist immer noch denken. Und dagegen ist nichts zu machen.
Einmal habe ich versucht, das Problem mit No zu besprechen. Ich dachte, nach alldem, was sie erlebt hatte, hätte sie vielleicht eine Lösung gefunden, eine Möglichkeit, das Problem zu umgehen, und sie sah mich spöttisch an.
»Hörst du nie damit auf?«
»Womit?«
»Mit Grübeln.«
»Eben nicht, genau das erkläre ich dir ja gerade, wenn du nämlich darüber nachdenkst, ist es nicht möglich.«
»Doch, wenn du schläfst.«
»Aber wenn man schläft, träumt man …«
»Mach es einfach wie ich, ich träume nicht, Träumen ist ungesund.«
Sie findet es nicht idiotisch, dass ich die Zutatenlisten aus den Tiefkühlkost-Verpackungen ausschneide, dass ich die Etiketten von Kleidungsstücken und Textilien sammle, dass ich die Länge der Klopapierrollen verschiedener Marken miteinander vergleiche, mit einem Lächeln um die Mundwinkel, einem völlig unironischen Lächeln, sieht sie zu, wie ich messe, sortiere und klassifiziere. Ich sitze neben ihr und schneide Wörter aus der Zeitung aus, um sie in mein Heft zu kleben, sie fragt mich, ob ich nicht allmählich genug hätte oder wozu das gut sei, aber sie hilft mir, sie im Wörterbuch nachzuschlagen, ich merke, es gefällt ihr, man braucht nur zu sehen, wie sie mir die Definition diktiert mit ihrer brüchigen Stimme, wie eine Lehrerin betont sie jede Silbe, ganz ernsthaft und so. Einmal hat sie mir geholfen, für die Schule geometrische Formen auszuschneiden, sie gab sich wirklich Mühe, sie kniff die Lippen zusammen und wollte nicht, dass ich mit ihr redete, sie hatte Angst, es könnte danebengehen, es schien so wichtig für sie zu sein, dass alles perfekt wurde, auf den Mikrohundertstelmillimeter genau, und ich machte ihr schrecklich viele Komplimente, als sie fertig war. Am allerschönsten ist es für sie, wenn sie mir beim Aufsagen meiner Englisch-Hausaufgaben hilft. Einmal musste ich einen Dialog zwischen Jane und Peter über Umweltschutz wiederholen, ich traute mich nicht, ihr zu sagen, dass ich ihn nur ein- oder zweimal lesen musste, um ihn auswendig zu können, sie wollte unbedingt Peter spielen, und ich sollte Jane sein. Mit einem französischen Akzent, der wirklich zum Totlachen war, versuchte sie sich zehnmal an der Aussprache von worldwide, sie stolperte über das Wort, zog eine Grimasse und nahm einen neuen Anlauf. Wir haben so gelacht, dass wir nie damit fertig wurden.
Wenn ich beschäftigt bin, verbringt sie viel Zeit mit Nichtstun, das ist vielleicht das Einzige, das mich an ihre Vergangenheit erinnert, diese Fähigkeit, die sie hat, sich irgendwo abzulegen, wie einen Gegenstand, und mit abwesendem Blick zu warten, dass die Minuten vergehen, als müsse etwas geschehen, das sie an einen anderen Ort versetzt, als zähle das alles im Grunde nicht, als habe es keine Bedeutung, als könne das alles mit einem Schlag aufhören.
Wenn sie raucht, gehe ich mit ihr hinaus auf den Balkon, wir reden und betrachten die erleuchteten Fenster, die Umrisse der Gebäude, die sich im Dunkel abzeichnen, die Leute in ihren Küchen. Ich versuche, mehr über Loïc zu erfahren, ihren Freund, sie hat gesagt, er sei nach Irland gegangen, aber eines Tages, wenn sie Geld hätte und einen neuen Zahn, würde sie ihm hinterherreisen.
Abends treffen wir uns bei Lucas. Nach der Schule nehme ich mit ihm zusammen den Bus, und wenn es zu kalt ist, um an der Bushaltestelle zu warten, gehen wir hinunter in die Metro. No kommt nach, bei Lucas sind wir allein und frei. No verbringt ihre Tage damit, sich in Geschäften, bei Verbänden und in Agenturen vorzustellen, überall hinterlässt sie ihren Lebenslauf, sie ruft bei den Telefonnummern an, die man ihr empfiehlt, und hört überall dieselbe Antwort. Sie ist nach der neunten Klasse von der Schule gegangen, sie spricht keine Fremdsprache, sie kann nicht mit dem Computer umgehen, und sie hat noch nie gearbeitet.
Zusammen mit Lucas erfinden wir bessere Zeiten für sie, glückliche Zufälle, Märchen. Sie hört lächelnd zu, sie lässt sich von uns ein anderes Leben erzählen, Lucas ist Meister darin, er denkt sich Szenen aus, Einzelheiten, Verkettungen, Zusammenhänge, lässt das Unmögliche möglich erscheinen. Ich stelle die Kuchenteller auf den Küchentisch, er legt die Bananen in die Pfanne, bestreut sie mit Zucker und lässt sie karamellisieren, und dann sitzen wir drei da, vor der Welt geschützt. Er äfft die Lehrer nach,
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