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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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die Gesundheitsfürsorge angelegt, sie wartet noch auf Antwort, aber weil sie Rückenschmerzen hatte, hat mein Vater sie zu unserem Arzt geschickt und ihr das Geld fürs Honorar mitgegeben.
    Sie kam mit einem Entzündungshemmer und einem Medikament zur Lockerung verspannter Muskeln zurück, ich habe die Beipackzettel gelesen, von Medikamenten verstehe ich einiges, wegen all der Mittel, die meine Mutter genommen hat und immer noch nimmt, ich schließe mich ins Badezimmer ein, um mich über die Anwendungsgebiete, die Einnahme, die Nebenwirkungen und so zu informieren und setze meine Recherchen dann im Gesundheitslexikon fort, ich lege ein Verzeichnis der Moleküle und ihrer Hauptmerkmale an. Wenn ich gefragt werde, was ich werden will, sage ich immer, Notärztin oder Rocksängerin, dann lächeln die Leute, sie sehen da keinen Zusammenhang, ich schon.
    No nimmt ihre Medikamente, anscheinend geht es ihr besser, sie gewöhnt sich ein. Wenn sie länger bleibt, um an der Bar zu bedienen, bis der Kellner zurückkommt, muss sie gut angezogen sein. Meine Mutter hat ihr ein paar eher schicke Röcke geliehen, die ihr wirklich gut stehen.
    Wenn sie dienstags rechtzeitig aus dem Hotel wegkommt, treffen wir uns in Lucas’ Wohnung. Er lädt Musikstücke aus dem Internet hoch, macht uns mit neuen Gruppen bekannt, er zieht die Vorhänge zu, und wir reden über alles und nichts, No erzählt, wie die Zimmer morgens aussehen, was die Leute alles vergessen, welche Strategien ihr Chef anwendet, um auch noch am Kleinsten zu sparen, und sie bringt uns zum Lachen, indem sie ihn imitiert mit seinem dicken Bauch und den ringbeladenen Fingern, sie spricht dann mit tiefer Stimme und tut so, als müsse sie sich die Stirn mit einem Taschentuch abwischen, anscheinend macht er das die ganze Zeit. Sie erzählt uns von ihren neuesten Erlebnissen, zum Beispiel von der Toilettentür, die zwei Stunden lang nicht aufging, bis der Typ dahinter sie schließlich einschlug, oder vom Riesenaufstand, den ein Gast veranstaltete, nachdem er entdeckt hatte, dass der Gin mit Wasser gestreckt worden war. Lucas wiederum erzählt ihr Geschichten aus unserer Klasse und zeichnet die Porträts der Schüler, er verbringt die Unterrichtszeit damit, die anderen zu beobachten, ihre Kleidung, ihren Gang, ihre Manien, er beschreibt sie mit verblüffender Präzision, er berichtet von Affinitäten, Gleichgültigkeit und Rivalitäten. Mit seinem Gangsterblick erzählt er natürlich auch von seinen eigenen Dummheiten, den miesen Noten, den bösen Verweisen und zerrissenen Heften. Und auch mich vergisst er nicht, er imitiert meine Schüchternheit, wenn ich meine Texte laut vorlesen muss, ganze Abschnitte kann er auswendig hersagen.
    An den übrigen Wochentagen verbringe ich ein oder zwei Stunden allein bei ihm, bevor ich nach Hause gehe. Er hat im Internet einen Blog eingerichtet und schreibt kleine Texte über Comics, Musik oder Filme, er fragt mich nach meiner Meinung und lässt mich die Kommentare lesen, die er bekommt. Er möchte eine eigene Rubrik nur für mich schaffen, den Titel hat er schon: Krümel Unendlich. Ich finde es schön, neben ihm zu sein, seinen Geruch einzuatmen, seinen Arm zu streifen. Ich könnte Stunden damit zubringen, ihn anzusehen, seine gerade Nase, seine Hände, die Strähne, die ihm in die Augen fällt.
    Und wenn er meinem Blick begegnet, lächelt er sein unglaublich sanftes, ruhiges Lächeln, und dann sage ich mir, dass wir das Leben noch vor uns haben, das ganze Leben.

I n Choisy-le-Roi lebte No mit ihrer Mutter und dem Motorrad-Mann in einer Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum. Er ging frühmorgens weg und kam spätabends wieder. Er klapperte die Unternehmen ab, um Schlösser, Stahltüren und Alarmsysteme zu verkaufen. Er fuhr einen Dienstwagen, trug schicke Anzüge und ein goldenes Kettchen am Handgelenk. No erinnert sich noch genau an ihn, sagt sie, sie würde ihn noch auf der Straße erkennen. Er war nett zu ihr. Er machte ihr Geschenke, interessierte sich für ihre Leistungen in der Schule und brachte ihr das Fahrradfahren bei. Ihretwegen stritt er oft mit ihrer Mutter. Suzanne ließ sie in der Küche zu Abend essen, sie stellte ihr den Teller hin wie einem Hund, dann machte sie die Tür zu. Eine Viertelstunde später kam sie wieder und schimpfte, wenn der Teller nicht leer war. No sah auf die Wanduhr und folgte mit den Augen dem Sekundenzeiger, um die Zeit herumzubringen. No versuchte, sich unsichtbar zu machen, sie wusch das Geschirr ab, putzte,

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