No & ich: Roman (German Edition)
Geneviève kennengelernt, das Mädchen, das bei Auchan arbeitet, sie haben sich sofort angefreundet. Genevièves Eltern waren einige Monate zuvor bei einem Brand ums Leben gekommen, sie bekam mitten im Unterricht Wutanfälle und warf Fensterscheiben ein, niemand durfte ihr nahe kommen. Man nannte sie die Wilde, sie war imstande, die Vorhänge herunterzureißen und zu zerfetzen. An jedem zweiten Wochenende fuhr Geneviève zu ihren Großeltern, die in der Nähe von Saint-Pierre-sur-Dives lebten. Ein, zwei Mal lud sie No ein mitzukommen, sie nahmen gemeinsam den Zug, und Genevièves Oma holte sie vom Bahnhof ab. No mochte ihr Haus sehr, die weißen Wände, die hohen Decken, sie fühlte sich dort geborgen.
In Geneviève wütete es, sie hatte den rasenden Wunsch, aus ihrer Lage herauszukommen. Das sagt jedenfalls No. Geneviève machte nämlich, nachdem sie aufgehört hatte, alles kaputtzumachen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, einen Schulabschluss und zog nach Paris. No begann wieder wegzulaufen.
Wir hörten den Schlüssel im Schloss, mein Vater kam in die Küche, und No brach ab. Wenn sie mit meiner Mutter spricht, gibt sie acht und vermeidet allzu grobe Ausdrücke. Ich spüre genau, wie meine Mutter ihr antwortet. Mit achtzehn ist man erwachsen, das merkt man an der Art, wie die Leute einen ansprechen, mit einer Art Rücksicht und Distanz, anders als sie ein Kind ansprechen, es hat nicht nur mit dem Inhalt zu tun, sondern auch mit der Form, einer Art Bemühen um gleiche Augenhöhe, so spricht meine Mutter mit No, und ich muss zugeben, es versetzt mir innerlich oft Stiche, als würden mir kleine Nädelchen ins Herz gestoßen.
Als ich drei oder vier Jahre alt war, glaubte ich, das Alter entwickle sich gegenläufig und meine Eltern würden in dem Maße, in dem ich größer würde, kleiner. Ich sah mich schon im Wohnzimmer stehen, mit gerunzelter Stirn und erhobenem Zeigefinger, und mit tiefer Stimme sagen, Nein, jetzt habt ihr genug Nutella gegessen.
D er Sonntag ist der Tag der häuslichen Experimente: Reaktion unterschiedlicher Brotsorten auf die Stufe 8 des Toasters (Mischbrot, Baguette, Milchbrötchen, Sechskorn), Zeit bis zum Verschwinden von Fußabdrücken auf feuchtem Boden, Zeit bis zum Verschwinden von Mundabdrücken auf beschlagenem Spiegel, Test der Widerstandsfähigkeit eines Haargummis im Vergleich zu der eines Schnippgummis, Löslichkeitsgrad von Nesquik im Vergleich zu dem von Pulverkaffee – eingehende Analysen, deren Zusammenfassung in einem eigens dafür vorgesehenen Heft ins Reine geschrieben werden. Seit No bei uns wohnt, muss ich mich um sie kümmern, ich meine, wenn sie nicht an ihrer Arbeitsstelle ist, auch das ist eine Art Experiment, auf sehr hohem Niveau, ein großangelegtes Experiment gegen das Schicksal.
Wenn No abends heimkehrt, kommt sie immer zu mir ins Zimmer. Sie streckt sich auf dem Boden aus, verschränkt die Hände unter dem Nacken und legt die Füße auf einen Stuhl, wir erzählen uns dann einen Haufen unwichtigen Kram, ich mag das, die Zeit zerrinnt zwischen den Fingern, ohne Langeweile, ohne dass sich etwas Besonderes ereignet, nur wohliges Dasein. Sie fragt immer nach vielen Einzelheiten aus der Schule, wie Axelle angezogen war, welche Note Léa bekommen hat, wie es bei Lucas geklappt hat, sie kennt fast alle Namen und fragt nach Neuigkeiten wie bei einer Fernsehserie. Manchmal denke ich, es ist vielleicht das, was ihr fehlt, die Schule und all das, sie würde vielleicht gern in Shorts durch die Turnhalle rennen, in der Mensa Zungenragout essen und gegen den Getränkeautomaten treten. Manchmal bittet sie mich, mit ihr nach draußen zu gehen, als brauche sie plötzlich Luft, als müsse sie draußen sein, dann gehen wir nach unten und drehen eine Runde, wir tragen zum Spaß Wettkämpfe auf den Spalten zwischen den Gehsteigplatten aus, wir spielen Seiltänzer oder Hüpfekästchen. Ich hätte nie gedacht, dass man so etwas in ihrem Alter noch schön finden könnte, doch No macht bei allen meinen Abenteuern mit, nimmt jede meiner Herausforderungen an und gewinnt fast immer. Neulich Abend haben wir uns auf eine Bank gesetzt, es war unglaublich mild für Januar, wir saßen einfach so nebeneinander und zählten die Frauen, die Stiefel trugen (eine Seuche), und die Bulldoggen, die an der Leine geführt wurden (auch so eine Mode).
Mit ihr zusammen ist nichts absurd, nichts unnütz. Sie sagt nie »du hast vielleicht Ideen«, sie schließt sich mir an. Sie ist mit mir in den
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