No & ich: Roman (German Edition)
kaufte ein und zog sich in ihr Zimmer zurück, sobald sich die Gelegenheit bot, dort brachte sie Stunden zu, ganz still. Wenn der Mann mit ihr spielte, schmollte ihre Mutter. Es kam immer häufiger zu Streitereien, No hörte durch die Wand Schreie und harte Worte, ihre Mutter warf dem Mann vor, er komme immer so spät zurück und treffe sich bestimmt mit einer anderen Frau. Manchmal verstand No, dass es um sie ging, er warf ihrer Mutter vor, sich nicht genug um sie zu kümmern, du lässt sie den Bach runtergehen, sagte er, und die Mutter weinte auf der anderen Wandseite. Der Mann kam immer später nach Hause, und die Mutter kreiste durch die Wohnung wie ein Tiger im Käfig. No beobachtete sie durch die halboffene Tür, sie hätte sie gern in die Arme genommen, sie getröstet, sie um Verzeihung gebeten. Einmal hat sie sich ihrer Mutter genähert und wurde von ihr so heftig zurückgestoßen, dass sie sich an der Tischkante die Braue aufschlug, die Narbe sieht man heute noch.
Eines Abends im Jahr darauf ging der Mann weg. Nach der Arbeit spielte er mit No, las ihr eine Geschichte vor und deckte sie im Bett zu. Später in der Nacht hörte No Geräusche, sie stand auf und überraschte ihn in der Diele, er trug einen großen Müllsack voller Sachen und einen langen grauen Mantel. Er stellte den Sack ab, um ihr übers Haar zu streichen.
Er zog die Tür hinter sich zu.
Einige Tage später kam eine Sozialarbeiterin. Sie stellte No Fragen, suchte ihre Lehrerin auf, sprach mit den Nachbarn und sagte, sie werde wiederkommen. No weiß nicht mehr, ob ihre Mutter mit dem Trinken anfing, bevor oder nachdem der Mann sie verließ. Sie kaufte Bier in Achterpacks und füllte den Einkaufsroller mit Weinflaschen. No half ihr, ihn die Treppen hinaufzuschaffen. Nos Mutter fand eine Stelle als Kassiererin in einem nahe gelegenen Supermarkt, sie ging zu Fuß hin, und sobald sie wieder zu Hause war, fing sie an zu trinken. Abends schlief sie vollständig angezogen vor dem Fernseher ein, No stellte den Fernseher ab, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu.
Später zogen sie nach Ivry in eine Sozialwohnung, dort wohnt ihre Mutter immer noch. Sie verlor ihre Arbeit. No blieb oft bei ihr, statt in die Schule zu gehen, sie half ihr aufzustehen, die Vorhänge aufzuziehen und zu kochen. Ihre Mutter redete nicht mit ihr, sie gab ihr mit den Händen oder mit dem Kopf Zeichen, das hieß, bring mir dies oder jenes, ja, nein, doch sie sagte niemals danke. No kam in der Schule nicht mehr mit, sie versteckte sich hinter den Säulen der Pausenhalle, spielte nicht mit den anderen, machte keine Hausaufgaben. Sie meldete sich nie im Unterricht und antwortete nicht, wenn sie aufgerufen wurde. Eines Tages kam sie mit aufgeplatzter Lippe und blauen Flecken am ganzen Körper zur Schule. Sie war im Treppenhaus gefallen, hatte sich zwei Finger gebrochen, und niemand hatte sich um die Verletzungen gekümmert. Die Sozialarbeiterin verständigte das Sozialamt.
Mit zwölf Jahren wurde No in eine Pflegefamilie gegeben. Monsieur und Madame Langlois hatten eine Tankstelle am Ortseingang von Colombelles. Sie wohnten in einem neuen Haus und besaßen zwei Autos, einen Farbfernseher mit riesigem Bildschirm, einen Videorecorder und eine Küchenmaschine neuster Bauart. No erwähnt immer solche Details, wenn sie etwas erzählt, noch vor dem Eigentlichen. Sie hatten drei Kinder, die schon aus dem Haus waren, und deshalb hatten sie sich als Pflegeeltern beworben. Sie waren nett. No lebte mehrere Jahre bei ihnen, und ihr Großvater kam sie an einem Nachmittag pro Monat besuchen. Monsieur und Madame Langlois kauften ihr, was sie an Kleidung brauchte, gaben ihr Taschengeld und machten sich Sorgen wegen ihrer schlechten schulischen Leistungen. Als sie aufs Collège kam, fing sie an zu rauchen und mit den Jungs in den Cafés rumzuhängen. Sie kam spät nach Hause, saß stundenlang vorm Fernseher und wollte nicht zu Bett gehen. Sie hatte Angst vor der Nacht.
Nachdem sie mehrmals ausgerissen war, steckte man sie in ein nicht allzu weit entferntes Erziehungsheim, ein Internat. Ihr Großvater besuchte sie weiterhin, und manchmal verbrachte sie ein paar Ferientage bei ihm auf den Bauernhof.
Auf dem Internat lernte sie Loïc kennen. Er war ein bisschen älter als sie und bei den Mädchen sehr beliebt. Nach dem Unterricht spielten sie Karten oder erzählten sich aus ihrem Leben, und nachts schlichen sie sich ins Freie, um Sternschnuppen zu beobachten. Auf demselben Internat hat sie auch
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