No & ich: Roman (German Edition)
weitere Anekdoten aus meiner Kindheit, vom Verlust meines gelben Kaninchens, das wir versehentlich auf einem Autobahnrastplatz vergessen hatten, von dem entenförmigen Schwimmring, den ich einen ganzen Sommer lang mit ins Bett nahm, weil ich mich nicht davon trennen wollte, von meinen rosa Sandalen mit dem gelben Stern, die ich bis mitten in den Winter hinein mit Söckchen trug, und von meiner Leidenschaft für Ameisen.
Ich hörte zu und dachte, das ist unglaublich, meine Mutter hat Erinnerungen. Es ist also doch nicht alles ausgelöscht. Meine Mutter bewahrt in ihrem Gedächtnis farbige Bilder auf, Bilder von vorher.
Wir sind sehr lange aufgeblieben, sie hatte eine Flasche Wein aufgemacht, für sich und No, ich durfte nur einmal zum Probieren nippen.
No fing an, ihr Fragen zu stellen, wie es gewesen sei, als sie jünger war, in welchem Alter sie meinen Vater kennengelernt habe, in welchem Alter sie geheiratet hätten, ob wir immer hier gelebt hätten, in dieser Wohnung, seit wann sie nicht mehr arbeite und so.
Als meine Mutter von Thaïs erzählte, wäre ich fast vom Stuhl gefallen, denn No sah mich vorwurfsvoll an, warum hast du es mir nie gesagt, bedeutete dieser Blick, und ich blickte auf meinen Teller, denn dafür gab es keine Gründe. Manche Geheimnisse sind wie Fossilien, und der Stein ist zu schwer geworden, als dass man ihn noch umdrehen könnte. Voilà.
Sie tranken die Flasche Wein leer, und dann erklärte meine Mutter, es sei schon spät und ich müsse am nächsten Morgen zur Schule.
Wenn ich sehr zornig bin, führe ich Selbstgespräche, und das tat ich, als ich im Bett war, mindestens eine Stunde lang zählte ich meine sämtlichen Leiden und Schmerzen auf, das ist sehr erleichternd, der Trick funktioniert noch besser, wenn man sich vor einen Spiegel stellt und ein bisschen dicker aufträgt, so als ob man jemanden beschimpfen würde, aber dazu war ich zu müde.
Heute Morgen hörte ich No aufstehen und dann das Geräusch der Dusche und der Kaffeemaschine, ich machte die Augen nicht auf. Seit sie arbeitet, haben wir weniger gemeinsame Zeit, deshalb stehe ich manchmal früher auf, um sie ein paar Minuten zu sehen, aber heute Morgen nicht, da hatte ich keine Lust.
In der Schule traf ich Lucas wieder, er erwartete mich vor dem Eingang, wir hatten einen Test in Erdkunde, aber er hatte nichts gelernt.
Ich schob mein Heft in seine Sichtweite, aber er warf keinen Blick darauf. Er pfuscht nicht, er denkt sich nichts aus, er zeichnet kleine Männchen an den Rand eines Blattes, das ansonsten leer bleibt, und ich mag diese Männchen, ihr zu Berge stehendes Haar, die riesigen Augen und die wunderbaren Kleider.
In der Mensaschlange dachte ich an meine Mutter, an die Beweglichkeit ihres Gesichts und ihrer Hände, an ihre Stimme, die nicht mehr nur flüstert. Es ist ganz gleich, ob es dafür nun eine Erklärung gibt, eine Beziehung von Ursache und Wirkung. Es geht ihr besser, sie ist dabei, wieder Freude am Gespräch und an Gesellschaft zu finden, alles andere muss unwichtig sein.
Nach der Schule lud mich Lucas auf eine Cola in die Bar Botté ein, er fand, ich sehe traurig aus. Er erzählte mir den neusten Schultratsch (er ist über alles auf dem Laufenden, weil er jeden kennt) und versuchte, mir die Würmer aus der Nase zu ziehen, aber ich brachte es nicht fertig, etwas zu sagen, weil sich alles in meinem Kopf verheddert hatte und ich nicht wusste, an welchem Ende ich anfangen sollte.
»Weißt du, Krümel, jeder hat seine Geheimnisse. Und manche müssen unten bleiben, da wo man sie versteckt hat. Aber ich kann dir mein Geheimnis sagen: Wenn du groß bist, werde ich dich an einen Ort mitnehmen, an dem die Musik so schön ist, dass man auf der Straße tanzt.«
Ich kann gar nicht sagen, wie das auf mich wirkte, auch nicht, wo genau es sich abspielte, irgendwo mitten im Plexus, etwas, das mich am Atmen hinderte, mehrere Sekunden lang konnte ich ihn nicht ansehen, ich nahm nur die Einschlagsstelle wahr und die Hitze, die an meinem Hals hochkroch.
Wir schwiegen, und dann fragte ich:
»Glaubst du, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder nicht lieben?«
Wenn man bedachte, dass sein Vater am anderen Ende der Welt lebte und seine Mutter sich in einen Luftzug verwandelt hatte, war das keine besonders geschickte Frage. Ich bedaure oft, dass man die ausgesprochenen Worte nicht ausradieren kann wie auf dem Papier, dass es keinen Spezialstift gibt, den man in der Luft schwenkt, um die Worte auszustreichen, bevor sie
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