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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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machte sie es genauso. Ihr Chef ist fett und schmutzig, er würde Vater und Mutter umbringen, um einen Euro zu sparen, er bescheißt die Gäste und hängt den ganzen Tag am Telefon, um dunkle Geschäfte zu besprechen. Das sagt sie. Er wirft ihr vor, sie arbeite nicht schnell genug, sie brauche zu viel Zeit für die einzelnen Zimmer, obwohl doch noch die Wäsche gemacht und Flure und Eingang geputzt werden müssten. Zum Ausgleich für ihre Langsamkeit könne sie ruhig ein wenig zusätzlich arbeiten. Der Barkeeper wurde entlassen, und da noch kein Nachfolger eingestellt wurde, muss No jeden Abend die Gäste bedienen, bis um 19 Uhr der andere Barkeeper kommt. Sie will nicht mit meinen Eltern darüber sprechen. Nicht schlimm, sagt sie, aber ich bin sicher, ihr Chef hält sich nicht so richtig ans Arbeitsrecht und all diese Sachen.
    Lucas hat mir ein Heft mit festem Einband geschenkt, es ist wie ein Buch mit leeren Seiten, und einen Filzstift mit einer speziellen Spitze, mit der man wie mit einer Kalligraphiefeder schreibt. Er hat mich mitgenommen, um alte CDs und eine neue Jacke zu kaufen. Er hat gesagt, er wolle mich in ein Restaurant bei ihm in der Nähe einladen, er sei mit dem Wirt bekannt, und eines Tages würden wir beide in Urlaub fahren, mit einem Camping-Gaskocher, vielen Büchsen Ravioli, einem Iglu-Zelt und so. Und neulich habe ich wirklich geglaubt, er würde Gauthier de Richemont zusammenschlagen, weil der mich auf dem Hof angerempelt und sich danach nicht entschuldigt hatte.
    Seine Mutter ruft hin und wieder an und fragt, ob alles in Ordnung sei, er möchte, dass ich sie kennenlerne, einmal hörte ich, wie er sie fragte, ob sie am Wochenende kommen werde, danach war er sauer, das sah ich, aber ich wollte ihm keine Fragen stellen. Meine Eltern sind froh, dass ich mich mit einem Klassenkameraden angefreundet habe, um genauere Angaben zu seinem Alter und zu seiner schulischen Situation habe ich mich gedrückt. Wenn ich zu ihm gehe, erzähle ich ihm von No, von dem Ärger mit ihrem Chef, wir malen uns Komplotte, Rachefeldzüge und Strafen aus, das Drehbuch ist jedes Mal neu, aber es endet immer gleich, wir werden ihm die Autoreifen aufstechen, uns Strumpfmasken überziehen und ihm wie im Film an einer Straßenecke auflauern, wir werden ihn so erschrecken, dass er uns das ganze Geld aus der Kasse gibt, aus dem Hotel flieht und nie wiederauftaucht. Dann wird No nach einem Jahr und einem Tag Hotelbesitzerin, sie lässt die Fassade restaurieren und innen alles neu streichen, gewinnt eine anspruchsvolle internationale Kundschaft, man muss Monate im Voraus bei ihr reservieren, sie verdient viel Geld und veranstaltet Tanzabende, eines Tages lernt sie einen englischen Rockstar kennen, die beiden verlieben sich bis über beide Ohren, sie eröffnet eine Dependance mitten in London und pendelt zwischen den beiden Hauptstädten. Oder aber Loïc kehrt zurück, er verlässt Irland, um mit ihr zusammenzuleben.
    Was ich an Lucas mag, ist seine Fähigkeit, sich die unglaublichsten Geschichten auszudenken und stundenlang darüber zu sprechen, mit allen möglichen Einzelheiten, als könnte man sie dadurch Wirklichkeit werden lassen, oder einfach nur aus Freude an den Worten, wenn er sie so ausspricht, als wäre alles wahr. Auch wenn er das Fach Französisch nicht mag, Lucas ist wie ich, er kennt die Macht der Worte.
    Neulich hat Monsieur Marin bei der Rückgabe der Hausarbeiten vor versammelter Klasse erklärt, ich sei eine Utopistin. Ich tat so, als hielte ich es für ein Kompliment. Ich schlug es im Wörterbuch nach. Danach war ich mir nicht mehr so sicher. Wenn Monsieur Marin in der Klasse auf und ab geht, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und gerunzelter Stirn, ist deutlich zu sehen, dass er die ganze echte Lebenswirklichkeit im Kopf hat, als Konzentrat. Die echte Wirklichkeit der Wirtschaft, der Finanzmärkte, der sozialen Probleme, der Ausgrenzung und so. Deshalb hält er sich ein wenig gebeugt.
    Ich mag zwar Utopistin sein, aber trotzdem ziehe ich stets zusammenpassende Socken an, was bei ihm nicht immer der Fall ist. Und man wird mir nicht ausreden können, dass jemand, der imstande ist, sich vor dreißig Schülern in einer roten und einer grünen Socke zu präsentieren, zumindest mit einem Teil seines Kopfes in den Wolken lebt.

A nders als die meisten Leute mag ich die Sonntage, an denen man nichts zu tun hat. No und ich sitzen in der Küche, die Haare fallen ihr in die Augen, draußen sieht man einen

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