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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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gehört werden können.

    Er zündete sich eine Zigarette an und richtete seinen Blick durch die Glasscheibe in die Ferne. Und dann lächelte er.
    »Ich weiß nicht, Krümel. Ich glaube nicht. Ich glaube, es ist immer komplizierter, als man denkt.«

N eulich haben wir Fotos gemacht, No und ich. Lucas hatte einen Apparat im Schrank seines Vaters gefunden, so ein altes Ding mit einem Film drin, den man entwickeln lassen muss. In derselben Kiste lagen ein paar Filme mit überschrittenem Haltbarkeitsdatum, und wir beschlossen, es einfach auszuprobieren. Während seiner Gitarrenstunde gingen wir nach draußen und fotografierten uns beide mit dem Selbstauslöser, wir dachten uns Hexenfrisuren aus (Lucas hatte mir ein Gel geliehen, mit dem die Haare starr abstanden). Ein paar Tage später holten wir die Bilder zusammen ab und setzten uns in der Nähe des Geschäfts auf eine Bank, um sie anzuschauen. Die Farben waren ein wenig verschossen, als hätten die Fotos zu lange an der Wand gehangen. Sie wollte sie zerreißen. Sie fand sich auf allen schrecklich, sieh mal, wie hübsch ich früher war, als ich klein war, sagte sie. Sie holte ein Kinderbild von sich aus der Tasche, das einzige, das sie besitzt, sie hatte es mir nie gezeigt. Ich sah es lange an.
    Sie ist etwa fünf oder sechs Jahre alt, der Pony ist ordentlich gekämmt, zwei dunkle Zöpfe umrahmen ihr Gesicht, sie lächelt, und doch ist etwas an dem Bild, das schmerzt, sie sieht direkt ins Objektiv, ihre Umgebung ist nur schwer zu erkennen, eine Bibliothek oder ein Klassenzimmer, aber das ist nicht so wichtig, sie ist ganz allein, das sieht man auf dem Foto, man sieht es an ihrer Haltung, die Hände aufs Kleid gelegt, und an dieser Leere rings um sie herum. Sie ist ein kleines Mädchen, das ganz allein ist auf der Welt, ein verlassenes Mädchen. Sie nahm mir das Foto wieder ab, sie war ganz stolz, siehst du, wie hübsch ich war als Kind?, fragte sie wieder. Ich weiß nicht, warum ich in diesem Augenblick an eine Reportage dachte, die ich einige Monate zuvor im Fernsehen gesehen hatte, es ging um Kinder in Waisenhäusern, ich hatte so sehr geweint, dass mein Vater mich noch vor dem Ende der Sendung ins Bett schickte.
    »Das geht dich eigentlich überhaupt nichts an …«

    Seit einigen Tagen ist sie schlecht gelaunt, sie schließt sich in ihr Zimmer ein und gerät wegen jeder Kleinigkeit in Wut, wenn wir beide unter uns sind. Es tut mir weh, aber ich erinnere mich, mein Vater hat einmal gesagt, dass man sich gerade gegenüber den Menschen, die man am meisten liebt und denen man am meisten vertraut, unfreundliches Benehmen erlauben kann (weil man weiß, dass es sie nicht davon abbringen wird, uns zu lieben). Ich habe entdeckt, dass No meiner Mutter Medikamente geklaut hat, Xanax und solche Sachen, ich bin mal ins Badezimmer gekommen, als sie gerade eine Packung wieder verschloss. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich nichts sage, als wäre ich eine, die petzt und so. Sie braucht es zur Beruhigung, aber ich weiß, dass man nicht einfach alles Mögliche ohne Verschreibung einnehmen darf, das steht in meinem Gesundheitslexikon, sie hat mir versprochen, dass sie noch einmal zum Arzt geht, sobald sie ihren Versichertenausweis hat. Mir ist klar, dass es an ihrer Arbeitsstelle schwieriger wird. Sie kommt immer später nach Hause, immer müder, an manchen Abenden will sie nicht mit uns essen, sie habe keinen Hunger, behauptet sie, nachts läuft sie hin und her, dreht den Wasserhahn auf, öffnet das Fenster, schließt es wieder, mehrmals habe ich sie trotz der geschlossenen Tür auf der Toilette erbrechen hören. Meine Eltern merken nichts, weil meine Mutter Schlafmittel nimmt und mein Vater einen sehr tiefen Schlaf hat (angeblich konnte man, als er klein war, neben ihm staubsaugen, ohne dass er aufwachte). Als er aus China zurückkam, schenkte er jeder von uns einen kleinen Glücksbringer mit einem roten Faden als Aufhänger, ich habe meinen übers Bett gehängt, denn ich weiß, dass die Nacht die Zeit ist, in der die Dinge verlorengehen. No hat ihren in ein Knopfloch ihres Blousons geknotet. Sie hat ihren ersten Lohn erhalten, halb bar und halb in Form eines Schecks. Ihr Chef hat die Überstunden nicht berücksichtigt. Wenn sie nicht zufrieden sei, hat er ihr gesagt, könne sie sich ja was anderes suchen. An diesem Tag hat sie in seinen Kaffee gespuckt, vorsichtig umgerührt, damit sich der Speichel gut auflöst, und ihm das Ganze dann gebracht, an den Tagen darauf

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