No & ich: Roman (German Edition)
blassen Himmel und unbelaubte Bäume. Sie sagt: Ich muss zu meiner Mutter.
»Wozu?«
»Ich muss hin.«
Ich klopfe an die Schlafzimmertür meiner Eltern, sie schlafen noch. Ich gehe ans Bett und flüstere meinem Vater ins Ohr: Wir möchten zum Flohmarkt in Montreuil gehen. No will nicht, dass ich die Wahrheit sage. Er steht auf, er könne uns hinbringen, bietet er an, aber das rede ich ihm mit wenigen Sätzen aus, er solle sich lieber ausruhen, über die Station Oberkampf kämen wir direkt mit der Metro dorthin. Im Flur zögert er, sieht uns beide an, eine nach der anderen, und ich setze eine vernünftige Miene auf und lächle.
Wir nehmen die Metro bis zur Gare d’Austerlitz und dann den RER bis Ivry, No wirkt angespannt, sie beißt sich auf die Lippe, ich frage mehrmals, ob sie sicher sei, dass sie hinwolle und dass es der richtige Zeitpunkt sei. Sie hat ihre verstockte Miene aufgesetzt, der Blouson ist bis zum Kinn geschlossen, die Hände sind in die Ärmel vergraben, und das Haar hängt ihr in die Augen. Als wir aus dem Bahnhof kommen, gehe ich gleich zum Umgebungsplan, es macht mir Spaß, nach dem Pfeil Sie sind hier zu suchen, den roten Kreis inmitten der Kreuzungen und Straßen zu lokalisieren und mit Hilfe des Gitternetzes meinen Standpunkt genauer zu bestimmen, es ist wie beim Schiffeversenken, H4, D3, Treffer, versenkt, man könnte fast glauben, so sei die ganze Welt: vor einem aufgezeichnet.
Ich sehe, wie sie zittert, und stelle die Frage ein letztes Mal:
»Bist du sicher, dass du hinwillst?«
»Ja.«
»Bist du sicher, dass sie immer noch hier wohnt?«
»Ja.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe neulich angerufen, sie ist drangegangen. Ich habe gesagt, ich möchte Suzanne Pivet sprechen, und sie hat gesagt, am Apparat, dann habe ich aufgelegt.«
Es ist noch nicht Mittag, wir kommen in die Wohnanlage, und als wir vor dem Block stehen, zeigt sie mir das Fenster, hinter dem ihr Schlafzimmer lag, die Vorhänge sind zugezogen.
Wir gehen leise die Treppe hinauf, ich spüre, wie meine Beine unter mir nachgeben, ich bekomme kaum Luft. No klingelt ein Mal. Dann ein zweites Mal. Schleppende Schritte nähern sich der Tür, der Spion verdunkelt sich, einige Sekunden lang halten wir den Atem an, schließlich sagt No, ich bin’s, Nolwenn. Wir hören aus größerer Entfernung eine Kinderstimme, Flüstern und dann wieder nichts. Auf der anderen Seite ist eine stumme, aufmerksame Gegenwart spürbar. Die Minuten vergehen. Da beginnt No, kräftig gegen die Tür zu treten und sie mit Faustschlägen zu bearbeiten, mein Herz jagt, ich habe Angst, die Nachbarn rufen die Polizei, sie hämmert mit allen Kräften gegen die Tür, ich bin’s, schreit sie, mach auf, aber es geschieht nichts, deshalb ziehe ich sie nach einiger Zeit am Ärmel, ich versuche, mit ihr zu sprechen, ihre Hände, ihr Gesicht zu berühren, schließlich folgt sie mir, wir gehen nach unten, und zwei Stockwerke tiefer sackt sie plötzlich auf den Boden, sie ist so blass, dass ich fürchte, sie könnte ohnmächtig werden, sie atmet schwer und zittert am ganzen Körper, selbst durch die beiden Blousons ist zu sehen, dass es zu viel ist, zu viel Schmerz, sie hämmert weiter gegen die Wand, eine Hand beginnt zu bluten, ich setze mich neben sie und nehme sie in die Arme.
»No, hör zu, deine Mutter hat nicht die Kraft, dich zu sehen. Vielleicht würde sie es gern, kann es aber nicht.«
»Es ist ihr scheißegal, Lou, verstehst du, es ist ihr scheißegal.«
»Nicht doch, ich bin sicher, das stimmt nicht …«
Sie rührt sich nicht mehr. Wir müssen da weg.
»Weißt du, das zwischen Eltern und Kindern ist immer komplizierter, als man denkt. Wir beide sind zusammen, oder? Ja oder nein? Du hast es doch gesagt. Komm mit mir. Los, komm. Steh auf und lass uns hier weggehen.«
Wir gehen die letzten Stockwerke hinunter, ich halte sie am Handgelenk fest. Auf der Straße zeichnet das Sonnenlicht unsere Schatten auf den Boden, sie dreht sich zu dem Block um, am Fenster erkennen wir ein Kindergesicht, es ist sofort wieder verschwunden, wir gehen zum Bahnhof, die Straßen sind menschenleer, aus der Ferne meine ich die Geräusche eines Marktes zu hören.
T ante Sylvies Mann hat eine neue Frau kennengelernt und will sich scheiden lassen. Mein Vater hat beschlossen, dass wir in den Februar-Ferien für drei oder vier Tage zu ihr fahren. Sie braucht Unterstützung. Meine Mutter ist ausnahmsweise einverstanden.
Obwohl wir schon seit Ewigkeiten nicht mehr aus
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