No & ich: Roman (German Edition)
Paris weggefahren sind, bin ich nicht sonderlich begeistert. Vor allem, weil No ihrer Arbeit wegen nicht mit uns fahren kann. Ich habe zwar versucht, die Möglichkeit ins Gespräch zu bringen, dass ich bei ihr bleiben könnte, weil ich doch so viel für die Schule zu tun hätte, ich habe sogar behauptet, ich hätte Experimente begonnen, die ich unbedingt selbst zu Ende bringen müsste, aber sie wollten nichts davon wissen. Am Abend hörte ich, wie meine Eltern diskutierten, ob man No ganz allein in der Wohnung lassen könnte, sie sprachen leise, ich konnte also nur Bruchstücke verstehen, aus denen ich schloss, dass meine Mutter eher dafür war und mein Vater nicht so sicher.
Wir sind in ihrem Zimmer, ihre Klamotten liegen auf dem Boden, das Bett ist ungemacht. No steht, auf einen Ellbogen gestützt, am Fenster und raucht.
»Nächste Woche fahren wir für ein paar Tage weg, in die Dordogne, zu meiner Tante, sie ist die Schwester meines Vaters. Sie ist superunglücklich, weil ihr Mann sie sitzenlassen hat, mit meinen Vettern und so, es ist nicht so einfach …«
»Für wie lange?«
»Nicht sehr lange, nur ein paar Tage. Keine Sorge, du kannst hierbleiben.«
»Ganz alleine?«
»Ja, schon … Aber es ist ja nicht für lange.«
Einige Sekunden lang schweigt sie, sie beißt sich auf die Unterlippe, das ist mir auch schon früher aufgefallen, wenn ihr etwas nicht passt, ist sie imstande, sich auf die Lippe zu beißen, bis es blutet.
»Und du, kannst du nicht hierbleiben? Musst du unbedingt mit?«
Solche Sachen zerreißen mir das Herz. Sie schnippt die Kippe aus dem Fenster und streckt sich auf dem Bett aus, die Hände im Nacken verschränkt, sie sieht mich nicht an. Ich bleibe bei ihr und versuche, von etwas anderem zu reden, aber es ist da, über uns, es liegt in der Luft und wird immer dicker, ich habe das schreckliche Gefühl, sie im Stich zu lassen.
M ein Vater hat ihr einen regelrechten Vortrag gehalten über Vertrauen, Verantwortungsgefühl und die Zukunft und so, fast wie ein Parteivorsitzender, nur hatte er kein Mikro. Man merkt gleich, dass mein Vater im Büro ein Team von fünfundzwanzig Mitarbeitern dirigiert, manchmal färbt es auf sein Verhalten zu Hause ab, er hat eine Vorliebe für Planungen, Projekte, Wachstumskurven, ein Wunder, dass wir am Ende des Jahres nicht zu einem Evaluierungsgespräch unter vier Augen gebeten werden. Als meine Mutter sehr krank war, war das schwieriger, aber nun, wo sie wieder zu Kräften kommt, bastelt er wieder an einem Vierphasen-Programm zur Rückkehr ins Leben.
Ich finde ja, dass er ein bisschen übertrieben hat, was No angeht, aber sie wirkte danach sehr ernst, sehr betroffen, sie nickte, ja, sie werde gut auf die Schlüssel aufpassen, ja, sie werde die Post aus dem Kasten holen, ja, sie werde jeden Tag anrufen, ja, sie werde den Müll runterbringen, ja, es sei ihr klar, dass sie niemanden einladen solle. Mir ist aufgefallen, dass jemand, der den Leuten fünfzig Mal sagt, er habe Vertrauen zu ihnen, sich da häufig gar nicht so sicher ist. Aber No wirkte nicht verstimmt, nur ein bisschen besorgt.
Morgen fahren wir. Heute Abend soll sich No mit mir bei Lucas zu einer kleinen Party treffen. Ich habe meine Sachen gepackt, alles ist in Ordnung, bis auf diesen kleinen Knoten im Bauch, ich kann nicht recht herausfinden, woraus er besteht, dieser kleine Knoten, der mir Angst macht oder wehtut oder beides. No klingelt, sie hat sich von der Arbeit wegschleichen können, als Lucas die Tür aufmacht, sagt er Wow!, sie hat ihren Minirock an und ist geschminkt, so sehe ich sie zum ersten Mal, auf hochhackigen Schuhen, sie ist schön wie eine Manga-Figur mit ihrem schwarzen Haar, der hellen Haut und den riesigen Augen. Wir waren schon lange nicht mehr alle drei zusammen, Lucas geht einkaufen, ihren Lieblingskuchen und Cidre, weil sie den so gern trinkt. Ich trinke auch welchen, mindestens drei oder vier Gläser, Wärme verbreitet sich in meinem Bauch, der kleine Knoten löst sich auf, wir ziehen die Vorhänge zu, wir setzen uns alle drei aufs Sofa, wie früher, wir schmiegen uns aneinander und sehen eine DVD, die Lucas ausgesucht hat. Es ist die Geschichte einer tauben jungen Frau, die in einem Unternehmen arbeitet und von der niemand weiß, dass sie ein Hörgerät trägt. Sie stellt einen Praktikanten ein, er kommt aus dem Gefängnis, sie verliebt sich in ihn, er benutzt sie für einen großen Coup, weil sie von den Lippen lesen kann, sie tut alles, was er von ihr
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