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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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legte, sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Jeans auszuziehen. Ich machte einige Schritte in ihre Richtung, ich hörte sie weinen, es war wie ein Schluchzen der Wut und der Ohnmacht, ein zugleich durchdringender und heiserer Klang, unerträglich, ein Klang, wie er nur in der Stille entstehen kann, wenn man sich allein glaubt. Auf Zehenspitzen trat ich den Rückzug an. Hinter meiner Tür blieb ich stehen, mir war kalt, ich konnte mich nicht mehr rühren, ich sah meinen Vater in Nos Zimmer gehen, eine Stunde lang hörte ich seine Stimme, leise und fest, ich war zu weit entfernt, um etwas zu verstehen, und Nos Stimme, sie war noch leiser.

    Ich stand früh auf, No schlief noch, sie hatte am späten Vormittag einen Termin bei ihrer Sozialarbeiterin, sie hatte ihn schon vor Wochen auf der Schiefertafel neben dem Kühlschrank notiert. Es war ihr freier Tag. Ich ging in die Küche, wo mein Vater vor seiner Kaffeetasse saß, ich schüttete Milch in meine Schale, griff nach der Müslipackung und setzte mich ihm gegenüber, ich sah mich um, jetzt war nicht der richtige Moment, um mein Experiment über die Saugfähigkeit von Schwämmen unterschiedlicher Hersteller fortzusetzen oder eine neue Testreihe zur Bestimmung der Stärke der Magnete an den Schranktüren zu beginnen. Jetzt war der rechte Moment, um das zu retten, was noch zu retten war. Mein Vater beugte sich mir entgegen.
    »Weißt du etwas, Lou?«
    »Nein.«
    »Hast du sie zurückkommen hören?«
    »Ja.«
    »Solche Flaschen, war es das erste Mal?«
    »Ja.«
    »Hat sie Probleme an ihrer Arbeitsstelle?«
    »Ja.«
    »Hat sie dir davon erzählt?«
    »Ein bisschen. Nicht richtig.«
    Es gibt Momente, in denen man spürt, dass die Wörter einen auf gefährlich abschüssiges Gelände führen und einen Dinge sagen lassen, die man besser für sich behalten hätte.
    »Geht sie noch zur Arbeit?«
    »Ich glaube ja.«
    »Weißt du, Lou, wenn es nicht gut funktioniert, wenn No unsere Lebensweise nicht respektiert, wenn Maman und ich denken, dass es nicht gut für dich ist, dass es eine Gefahr für dich bedeutet, dann kann sie nicht bleiben. Das habe ich ihr gesagt.«
    » …«
    »Verstehst du das?«
    »Ja.«

    Ich sah, wie es immer später wurde und No immer noch nicht aufstand, obwohl sie doch den Termin bei der Sozialarbeiterin hatte. Ich sah den Augenblick kommen, in dem mein Vater einen Blick auf die Uhr werfen und denken würde, da haben wir’s, das ist der Beweis dafür, dass es nicht mehr geht, dass es aus dem Ruder läuft, dass man sich nicht mehr auf sie verlassen kann. Ich stand auf und sagte, ich geh sie wecken, sie hat gesagt, dass ich das tun soll.
    Ich ging an ihr Bett, da war dieser Geruch, den ich nicht identifizieren konnte, ein Geruch nach Alkohol oder nach Medikamenten, ich trat versehentlich auf die Sachen, die auf dem Boden lagen, und als meine Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen begannen, sah ich, dass sie sich in den Bettüberwurf gerollt hatte. Ich schüttelte sie sanft, dann heftiger, es dauerte sehr lange, bis sie die Augen öffnete. Ich half ihr, das T-Shirt zu wechseln und einen Pullover überzuziehen, ich hörte, wie mein Vater die Wohnungstür zuschlug. Ich ging zurück in die Küche und machte Kaffee. Ich hatte den ganzen Tag Zeit. Ich hätte gern Lucas angerufen, aber er war für die ganzen Ferien zu seiner Großmutter gefahren.
    No stand schließlich auf, den Termin hatte sie schon verpasst. Ich nahm einen Lappen und wischte die Tafel sauber, wegen der bedrückenden Stille stellte ich das Radio an. Später schloss sie sich zwei Stunden lang ein, um zu baden, man hörte nur, dass hin und wieder heißes Wasser lief, schließlich klopfte meine Mutter an die Tür und fragte, ob alles in Ordnung sei.
    Gegen zwölf ging ich zu ihr ins Zimmer, ich versuchte, mit ihr zu reden, aber sie schien mich nicht zu hören, am liebsten hätte ich sie mit aller Kraft geschüttelt, stattdessen sah ich sie wortlos an, ihr Blick war leer.
    Da dachte ich an Mamans Blick nach Thaïs’ Tod, wie er damals auf den Gegenständen und den Menschen ruhte, ein toter Blick, ich dachte an alle toten Blicke der Erde, Millionen Blicke ohne Glanz und Licht, verlorene Blicke, die nichts reflektieren, nur noch die Komplexität der Welt, einer mit Tönen und Bildern gesättigten und doch so armen Welt.

N o hat jetzt einen anderen Job im Hotel, sie arbeitet nachts. Bis zwei Uhr bedient sie an der Bar, und dann bleibt sie bis zum Morgen, um die Gäste ins Hotel

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