No & ich: Roman (German Edition)
der Tischplatte bohre ich meine Fingernägel in die Handflächen, ganz tief, damit der Schmerz abgelenkt wird, damit er sich konzentriert und dort zusammenfließt, wo er eine sichtbare Spur hinterlässt, eine Spur, die heilen kann.
Ich dusche, ziehe mich an, nehme meine Schultasche und lasse sie sitzen, alle beide, mein Vater spricht noch mit ihr, No antwortet nicht, wenn ich könnte, würde ich ihr sagen, dass sie bloß das zu machen braucht, was ich als Kind immer machte, die Hände auf die Ohren pressen, um alles auszulöschen, die Geräusche und den Tumult zum Schweigen zu bringen, die dröhnende Welt zum Schweigen zu bringen.
Ich renne zur Bushaltestelle, ich habe Angst, ich könnte zu Monsieur Marins Stunde zu spät kommen, ich habe keinen Bissen gegessen, mir dreht sich der Kopf, ich steige hinten ein und schlängele mich zwischen den Leuten durch, über mir vermischen sich all die Worte und das Motorengeräusch und der Straßenlärm, die Adern in meinen Schläfen pochen, ich starre auf die elektronische Anzeige mit den Namen der Haltestellen, die wir passieren, und mit der geschätzten Fahrtdauer bis zur Endhaltestelle, ich sehe nichts anderes mehr, die roten Buchstaben, die von links nach rechts defilieren, ich zähle die Silben, um nicht zu weinen.
Unmittelbar nach dem Klingeln betrete ich die Schule. Lucas erwartet mich unten an der Treppe, mit brennenden Augen gehe ich auf ihn zu, als ich bei ihm ankomme, umschließen mich seine Arme, plötzlich spüre ich das Gewicht meines winzigen Körpers an seinem und seinen Atem in meinem Haar.
B ücher haben Kapitel, um die einzelnen Phasen sauber zu trennen, um zu zeigen, dass die Zeit vergeht oder die Lage sich weiterentwickelt, und manchmal sogar Teile mit verheißungsvollen Titeln, Begegnung, Hoffnung, Ende, sie sind wie Bilder. Doch im Leben gibt es gar nichts, keine Titel, keine Warntafeln und Hinweisschilder, kein Achtung – Gefahr, häufiger Steinschlag oder drohende Desillusionierung. Im Leben ist man ganz allein in seinem Kostüm, und es ist eben Pech, wenn es ganz zerrissen ist.
Ich hätte sonst was getan, damit No bei uns geblieben wäre. Ich wollte, dass sie zu unserer Familie gehörte, sie sollte ihr Geschirr haben, ihren Stuhl, ihr Bett, in der richtigen Größe, ich wollte Sonntage in Winterfarben, den aus der Küche dringenden Duft der Suppe. Ich wollte, dass unser Leben wäre wie das der anderen. Jeder sollte seinen Platz am Tisch haben, seine Badezimmerzeit, seine Aufgabe im Haushalt, so dass man nur noch die Zeit vergehen zu lassen bräuchte.
Ich glaubte, man könne den Lauf der Dinge aufhalten, dem Programm entfliehen. Ich glaubte, das Leben könne anders sein. Ich glaubte, jemandem helfen heiße alles mit ihm teilen, auch das, was man nicht verstehen kann, auch das Düsterste. In Wahrheit bin ich nur eine Madame Allwissend (das sagt mein Vater immer, wenn er zornig ist), ein erbärmlicher kleiner Plastik-Computer für Kinder, mit Spielen, Rätseln und Schatzsuchen und einer dämlichen Stimme, die die richtige Antwort gibt. In Wahrheit kann ich mir nicht einmal richtig die Schuhe zubinden und bin mit lauter beschissenen Funktionen ausgestattet, die zu nichts gut sind. In Wahrheit sind die Dinge, wie sie sind. Die Wirklichkeit gewinnt immer die Oberhand, und die Illusion rückt in die Ferne, ohne dass wir es merken. Die Wirklichkeit hat immer das letzte Wort. Monsieur Marin hat recht, man darf nicht träumen. Man darf nicht hoffen, die Welt verändern zu können, denn die Welt ist viel stärker als wir.
Mein Vater ist zur Arbeit gegangen, meine Mutter kauft ein, ich nehme an, No hat nicht lange gezögert. Was haben die denn geglaubt? Dass sie geduldig auf einen Platz in irgendeiner Entzugsklinik oder Wiedereingliederungs-einrichtung warten würde? Dass man ihr das Problem nur zu erklären brauchte, jede Silbe betonend, nein, du kannst nicht bei uns bleiben, wir sind nicht mehr in der Lage, uns um dich zu kümmern, wir werden also wieder unser normales Leben aufnehmen, vielen Dank für deinen Besuch und bis zum nächsten Mal?
Als ich nach Hause kam, war sie nicht mehr da. Ich betrachtete das leere Zimmer, sie hatte das Bett gemacht und den Boden gesaugt, jeder Gegenstand war an seinem Platz, als hätte sie sich alles gemerkt, alles notiert, als hätte sie gewusst, dass eines Tages alles wieder in Ordnung gebracht werden müsste. Ich betrachtete den marokkanischen Teppich, auf dem sie so gern lag, die Lampe, die sie die ganze Nacht
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