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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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hereinzulassen. Es wird besser bezahlt. Es gibt Trinkgelder. Seit einer Woche begegnet mein Vater ihr unten vor der Haustür, wenn er zur Arbeit geht, oft hilft er ihr noch bis hinauf zur Wohnung, sie bricht auf dem Bett zusammen, nie zieht sie sich aus. Einmal hat er sie in der Eingangshalle aufgelesen, ihre Strumpfhose war zerrissen, die Knie aufgeschlagen, er hat sie nach oben getragen, ihr den Kopf unter die Dusche gehalten und sie dann ins Bett gelegt.

    Sie schläft den ganzen Tag. Mein Vater sagt, sie trinkt Alkohol und schluckt Medikamente. Er hat Kontakt zu ihrer Sozialarbeiterin aufgenommen, sie kann nicht viel tun, wenn No nicht mehr zu ihr kommt. Einmal habe ich sie in der Küche erwischt, meine Mutter und ihn, mitten in einer ernsten Diskussion, bei meinem Eintreten verstummten sie und nahmen ihr Gespräch erst wieder auf, als ich die Tür wieder hinter mir geschlossen hatte. Ich hätte zu gern ein oder zwei Mikros unter einem Lappen versteckt.

    Ich bringe es nicht fertig, etwas zu unternehmen und die Ferien zu genießen, ich bleibe zu Hause und trödele den ganzen Tag herum, ich sehe fern, blättere in den Zeitschriften und horche auf Geräusche aus Nos Zimmer, um ihr Aufwachen nicht zu verpassen.
    Sie kommt nicht mehr in mein Zimmer, und wenn ich am frühen Abend an ihre Tür klopfe, liegt sie zusammengekrümmt auf dem Bett.
    Meine Mutter hat versucht, sie zum Reden zu bringen, ihr Fragen zu stellen. No hat die Augen niedergeschlagen, wie sie es so gut kann, um den Blicken auszuweichen. Sie kommt nicht mehr in die Küche, auch nicht mehr ins Wohnzimmer, sie huscht ins Badezimmer, wenn sie sicher ist, niemandem zu begegnen. Abends isst sie mit uns, bevor sie wieder ins Hotel geht, es ist dieselbe Szene wie vor einem Monat, dasselbe Licht, dieselben Plätze, dieselben Bewegungen, aus der Vogelperspektive könnten die Bilder miteinander verschwimmen, sich gegenseitig überlagern, aber aus meiner Perspektive lässt sich erkennen, wie sehr sich die Luft verändert hat, wie schwer sie geworden ist.

    Ich weiß auch nicht, warum ich gestern Abend beim Einschlafen an den Kleinen Prinzen gedacht habe. Genauer gesagt, an den Fuchs. Der Fuchs bittet den Kleinen Prinzen, ihn zu zähmen. Doch der Kleine Prinz weiß nicht, was das bedeutet. Da erklärt es ihm der Fuchs, ich kenne die Passage auswendig: Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebenso wenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt …
    Vielleicht kommt es allein darauf an, vielleicht genügt es, wenn man jemanden findet, den man zähmt.

H eute Morgen fängt die Schule wieder an, draußen ist es dunkel, Kaffeeduft zieht durch die Küche. No sitzt meinem Vater gegenüber, ihr Gesicht ist blass und müde, wahrscheinlich ist sie gerade erst zurückgekommen. Die Fäuste meines Vaters liegen auf dem Tisch wie zwei entsicherte Handgranaten. Er steht auf, er wirkt wie jemand, der die Lage wieder im Griff hat. Was unter den derzeitigen Umständen keineswegs beruhigend ist.
    Mein Wecker hat gerade geklingelt, ich bin noch im Nachthemd, barfuß, No geht weg, sagt er. Ich glaube wirklich, er wiederholt es mehrere Male, weil ich nicht reagiere. No geht in eine Einrichtung, wo man sich um sie kümmern wird. Sie braucht Hilfe. No schweigt. Sie sieht auf den Tisch. Ich ziehe den Hocker heran, ich setze mich, das Atmen fällt mir schwer, also konzentriere ich mich darauf, ich verlangsame es, öffne wie ein Goldfisch den Mund, um die Luft in kleinen Mengen aufzunehmen, ich spreize meine Finger wie Schwimmflossen, um der Strömung zu widerstehen, ich stemme die Fußflächen fest auf den Kachelboden der Küche.
    »Verstehst du, Lou? Hast du das verstanden?«
    Ich habe keine Lust zu antworten. Ich habe keine Lust, es zu hören, auch nicht den Rest, die Geschichten mit der Sozialarbeiterin, dem Entzug, all diese sinn- und zwecklosen Worte, mikroskopisch kleine, Übelkeit erregende Algen auf der Oberfläche des Meeres. Wir hatten gesagt, wir würden No helfen, wir, bis ans Ende, wir hatten gesagt, wir würden für sie da sein, wir hatten gesagt, wir würden die Brocken nicht hinwerfen. Ich will, dass sie bleibt, ich will, dass wir uns tapfer schlagen, ich will, dass wir uns widersetzen. Unter

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