No & ich: Roman (German Edition)
brennen ließ, ich dachte an ihren brechend vollen Rollenkoffer, der über den Bürgersteig holperte, ich dachte an die dunkle Nacht, an die verlassenen Straßen, ich schloss die Augen.
Die Kleider, die meine Mutter ihr geliehen hatte, liegen sorgfältig gefaltet auf dem Tisch. Sie hat das Medizinschränkchen geleert, das hat mein Vater mir gesagt, sie hat alles mitgenommen, was noch da war an Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln.
Auf meinem Schreibtisch hat sie ihr Kinderbild hinterlassen, in einem schmutzigen Umschlag, ich sah nach, ob sie mir nicht etwas geschrieben hatte, aber da war nichts, nichts außer ihren Augen, die ins Objektiv sahen, die mich ansahen.
L ucas war ganz allein, er sah gerade fern, als No klingelte. In einer Hand hielt sie ihren Koffer und in der anderen ein paar Tüten, ihr Blouson war offen, sie trug nichts unter ihrem Pulli, man sah ihre weiße Haut, die Adern an ihrem Hals, er hat ihr die Sachen abgenommen und sie in die Wohnung gelassen. Sie stützte sich beim Gehen auf das Ablagetischchen, sie konnte sich kaum noch aufrecht halten, er brachte sie ins Schlafzimmer seiner Mutter, zog ihr Jeans und Schuhe aus, schlug die Bettdecke zurück und knipste das Licht aus. Er rief mich an, seine Stimme hatte diesen Gangsterton, ich begriff sofort.
Seine Mutter war einige Tage zuvor da gewesen, sie hatte den Kühlschrank aufgefüllt, ein paar Kleidungsstücke geholt, einen neuen Scheck ausgestellt und war wieder gegangen. Das gab uns Zeit.
Am nächsten Tag ging ich hin. No stand auf, als sie meine Stimme hörte, sie kam zu mir und nahm mich in die Arme, wir sagten nichts, kein Wort, wir standen einfach so da, ich weiß nicht, wer von uns beiden die andere stützte, wer von uns beiden die Schwächere war. Dann leerte No im Schlafzimmer ihren Koffer aus und verteilte die Sachen auf dem Boden: die Klamotten, die sie aus gemeinnützigen Kleiderkammern oder von Geneviève hatte, ein Schminktäschchen, ein Kinderbuch, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte, ihren roten Minirock. Sie stellte den großen Aschenbecher aus dem Wohnzimmer auf den Nachttisch, drehte die gerahmten Fotos um, zog die Vorhänge zu und hat sie seither nie wieder geöffnet.
Mehrmals schon haben mich meine Eltern gefragt, ob ich von ihr gehört hätte, ich habe meine übliche traurige Miene aufgesetzt und nein gesagt.
Wir werden uns um sie kümmern. Wir werden niemandem etwas sagen. Wir werden dieses Geheimnis ganz für uns bewahren, denn wir haben die Kraft dazu.
M eine Mutter benutzt Wimperntusche und Lippenstift, sie hat sich neue Kleider gekauft, ihre Medikamente niedriger dosiert und mit dem Personalchef in ihrer alten Firma einen Termin vereinbart. Vielleicht wird sie wieder halbtags arbeiten. Mein Vater hat Thaïs’ Zimmer in eine Baustelle verwandelt, er hat die Wände abgewaschen und den Teppichboden rausgerissen, um einen Laminatboden zu verlegen. Er sucht sich High-Tech-Möbel für ein schönes Arbeitszimmer aus. Abends blättern sie in Ikea- und Castorama-Katalogen, sie stellen Berechnungen an, schmieden Pläne und sprechen von Ferien und neuen Einrichtungen. Sie sind sich immer gleich einig, sie sitzen beide im Schneidersitz auf dem Sofa, als wäre das alles völlig normal, als wäre das immer so gewesen.
Ihrer Ansicht nach verbringe ich ein bisschen viel Zeit bei Lucas, deshalb muss ich mir Listen und Ausreden einfallen lassen, um später nach Hause kommen zu können. Ich arbeite mit François Gaillard an einem weiteren Referat, ich stelle Nachforschungen in der Bibliothek an, ich bin in der Vorbereitungsgruppe für den Tag der offenen Tür, ich helfe Axelle Vernoux, weil sie in Mathe Probleme hat. Ich habe nie erwähnt, dass Lucas allein lebt, und ich rede von seiner Mutter, als wohne sie auch in der Wohnung, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Mein Vater hat mehrmals mit Nos Sozialarbeiterin telefoniert. Er machte sich Sorgen. Sie hatte nichts mehr gehört, aber das sei oft so, sagte sie, wissen Sie, die Leute von der Straße sind unzuverlässig, sie kommen und gehen.
Zu Hause beschäftige ich mich, so gut ich kann. Ich habe meine Studie über Tiefkühlkost abgeschlossen. In der Tat lassen sich bei den meisten Gerichten gemeinsame Zutaten feststellen: Getreide-Gluten, Reisstärke, modifizierte Mais- oder Getreidestärke, eventuell auch Dinatriumdiphosphat oder Natriumbicarbonat. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gleich eine Zusatzstudie über Lebensmittelzusatzstoffe begonnen, ein
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