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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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eingeschlafen, eine Hand auf seinem Oberschenkel. Seit es ihr bessergeht, kommen sie sich wieder näher, das sehe ich, sie küssen sich in der Küche und kichern verschwörerisch.
    Aber ich hatte Angst. Angst, dass No weg wäre. Angst, ganz allein zu sein, wie vorher. Schließlich schlief ich ein, wegen der Bäume, die wie eine lichterlose Girlande blitzschnell vorüberhuschten. Als ich wieder aufwachte, waren wir schon auf dem Autobahnring, es war sehr heiß im Wagen, ich sah auf die Uhr, bald zwanzig Uhr, No musste schon zu Hause sein. Mein Vater hatte sie noch am selben Morgen anzurufen versucht, aber sie war nicht drangegangen.
    Es staute sich auf dem Ring, wir kamen nur im Schritttempo voran, durchs Fenster sah ich die Lager der Obdachlosen auf den Böschungen und unter den Brücken, ich sah die Zelte, Bleche und Baracken, das hatte ich noch nie gesehen, ich hatte nicht gewusst, dass es das gab, direkt an der Straße, mein Vater und meine Mutter sahen starr geradeaus, da leben Leute, dachte ich, im Motorenlärm, im Schmutz und in den Abgasen, mitten im Nirgendwo leben Leute, Tag und Nacht, hier in Frankreich, Porte d’Orléans oder Porte d’Italie, seit wann? Mein Vater wusste es nicht genau. Seit zwei oder drei Jahren hätten sich die Lager vermehrt, es gebe sie überall, ringsum, vor allem im Osten von Paris. So sind sie also, die Dinge, dachte ich. Die Dinge, gegen die man nichts tun kann. Wir sind imstande, sechshundert Meter hohe Wolkenkratzer zu bauen, Untersee-Hotels und künstliche Inseln in Palmenform, wir sind imstande, »intelligente« Baumaterialien zu entwickeln, die organische und anorganische Schmutzpartikel aus der Luft aufnehmen, wir sind imstande, selbsttätig agierende Staubsauger zu erfinden und Lampen, die ganz von allein angehen, wenn man nach Hause kommt. Wir sind imstande, Leute am Rand des Autobahnrings leben zu lassen.

    Meine Mutter war es, die die Tür aufschloss, wir betraten die Wohnung, auf den ersten Blick war alles normal, die Vorhänge waren zugezogen, die Gegenstände standen an ihrem Platz, nichts fehlte. Nos Tür stand offen, das Bett war ungemacht, ihre Sachen im Zimmer verstreut. Ich sah im Schrank nach, der Koffer war noch da. Das war immerhin etwas. Dann erst sah ich die umgekippten Schnapsflaschen auf dem Boden, mein Vater stand hinter mir, ich hatte nicht mehr die Zeit, sie zu verstecken. Wodka- und Whiskyflaschen und leere Medikamentenpackungen.

    Da dachte ich an die Adverbien und Konjunktionen, die einen Bruch in der Zeit (plötzlich, mit einem Mal) oder einen Gegensatz (nichtsdestotrotz, andererseits, hingegen, jedoch) ausdrücken oder einen Konzessivsatz einleiten (während, selbst wenn, wenn auch), ich dachte nur noch daran, ich versuchte, sie im Kopf aufzuzählen, ein Inventar anzulegen, ich konnte nichts sagen, gar nichts, weil rings um mich alles verschwamm, die Wände und das Licht.

    Da dachte ich, dass die Grammatik alles eingeplant hat, Enttäuschungen und Niederlagen und ganz allgemein beschissene Situationen.

W enn man nachts nicht schlafen kann, dann vermehren sich die Sorgen, sie schwellen an und wachsen, je mehr die Zeit voranschreitet, desto düsterer werden die Tage, die vor einem liegen, das Schlimmste wird zum Erwartbaren, nichts scheint mehr möglich, überwindbar, nichts scheint mehr ruhig. Die Schlaflosigkeit ist die dunkle Seite der Phantasie. Ich kenne diese dunklen, geheimen Stunden. Morgens wacht man benommen auf, die Katastrophenszenarios erscheinen einem nur noch absurd, der Tag wird die Erinnerung daran auslöschen, man steht auf, wäscht sich und denkt, man wird’s schon schaffen. Doch manchmal macht die Nacht eine klare Ansage, manchmal enthüllt die Nacht die einzige Wahrheit: Die Zeit vergeht, und die Dinge werden nie wieder sein, wie sie waren.

    No kam in den ersten Morgenstunden zurück, ich schlief nur halb, ich hatte die Tür meines Zimmers offen gelassen, damit ich sie nicht verpasste. Ich hörte den Schlüssel im Schloss, das Geräusch war sehr leise, sehr sanft und drang erst in meinen Traum ein, ich sah meine Mutter in meinem Zimmer, sie trug das Nachthemd, das sie im Krankenhaus anhatte, als Thaïs zur Welt kam, es war vorne offen, ihre nackten Füße waren weiß in der Dunkelheit, ich schrak aus dem Schlaf, sprang aus dem Bett und lief in den Flur, mit einer Hand strich ich an der Wand entlang, um mich zu orientieren, durch die offene Tür sah ich, wie No die Schuhe auszog und sich dann vollständig angezogen aufs Bett

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