No & ich: Roman (German Edition)
unerschöpfliches Feld für Zusatzstudien. Emulgatoren, Geliermittel, Stabilisatoren, Konservierungsstoffe, Antioxidantien und Geschmacksverstärker bevölkern meine verlorene Zeit, die Zeit ohne No.
Wenn man zehn Mal eine Münze wirft, dann erhält man entweder häufiger Zahl oder häufiger Kopf. Aber wenn man eine Million Mal wirft, dann, so sagt man, erscheinen Zahl und Kopf mit gleicher Häufigkeit. Das ist das Gesetz der großen Zahlen. Und da ich die Gesetze und Lehrsätze gern selbst austeste, werfe ich eine Münze und mache Striche auf einem Zettel.
Ich habe für No eine riesige Girlande gebastelt, eine Girlande, die ihr gleicht, es hängt alles Mögliche daran: ein leerer Joghurtbecher, eine einsame Socke, ein Etui für eine Metro-Dauerkarte, ein lädierter Korkenzieher, ein Prospekt von einem Karate-Club, ein Netz für Ariel-Waschtabs, eine auf der Straße gefundene Betty-Boop-Spange, ein 10-RMB-Schein, den mein Vater aus China mitgebracht hat, eine Schweppes-Dose (leer), zerknüllte Alufolie, ein Marché-U-Rabattcoupon im Wert von 50 Cent. Die werde ich ihr schenken, wenn sie einen Ort hat, an dem sie sie aufhängen kann. In der Zwischenzeit habe ich sie in meinem Zimmer aufgehängt, meiner Mutter habe ich gesagt, es handle sich um Konzeptkunst, sie schien nicht sehr überzeugt.
Wenn ich morgens in die Schule komme, gibt Lucas mir einen Lagebericht. Wann sie zurückgekommen ist, in welchem Zustand, ob sie sich noch auf den Beinen halten konnte, ob sie mit ihm geredet hat. Wir sondern uns von den anderen ab, unterhalten uns leise, stellen Hypothesen auf und entwerfen Strategien. Lucas hat zwei Flaschen Wodka in die Spüle geschüttet, No war verrückt vor Wut, er hat ihr gesagt, in seiner Wohnung dürfe sie nicht trinken, seine Mutter könne eines Tages unverhofft vorbeischauen oder auch die Putzfrau, und es sei ohnehin schon riskant genug. Er hat ihr keinen Zweitschlüssel gegeben, er verlangt von ihr, dass sie zurückkommt, bevor er die Wohnung verlässt.
Seit sie nachts arbeitet, ist No nicht mehr die Alte, es ist etwas in ihrem Innern, etwas wie ungeheure Müdigkeit oder abgrundtiefer Abscheu, etwas, das für uns nicht greifbar ist. Jeden Abend nach dem Unterricht laufen wir schnell zur Metro, wir gehen schweigend die Treppen hinauf, Lucas schließt die Tür auf, und ich stürze ins Schlafzimmer, ich habe Angst, sie könnte tot sein oder das Zimmer leer, ohne eine Spur von ihren Sachen. No liegt auf dem Bett, sie schläft oder döst, ich betrachte ihre bloßen Arme, die Ringe unter ihren Augen und möchte ihr Gesicht zwischen meine Hände nehmen, ihr das Haar streicheln, ich möchte, dass alles verschwindet.
Sie steht auf, wenn wir kommen, isst zwei oder drei Scheiben Brot, trinkt einen Liter Kaffee, duscht, zieht sich rasch an und kommt zu uns ins Wohnzimmer. Sie fragt, was wir erlebt haben, erkundigt sich besorgt, ob es draußen kalt ist, lobt meinen Rock oder meine Frisur, sie versucht, unbekümmert zu wirken, dreht sich eine Zigarette, setzt sich zu uns, mit abgehackten, ungeschickten Gesten. Ich bin sicher, auch sie denkt daran, an die Abende vor gar nicht so langer Zeit, an denen wir drei zusammen Filme gesehen und Musik gehört haben, sie denkt daran wie an etwas endgültig Vergangenes, Unwiederholbares, denn all das ist jetzt von einem Schleier bedeckt, unerreichbar.
Bevor sie aufbricht, schminkt sie sich, steckt ihr Haar zu einem Knoten auf, packt ihre hochhackigen Schuhe in eine Plastiktüte, dann zieht sie die Tür hinter sich zu. Wenn es nicht zu spät ist, begleite ich sie ein Stück, bevor ich nach Hause gehe, wir reden von diesem und jenem, wie früher, wir umarmen uns beim Abschied, sie deutet ein Lächeln an, und ich sehe ihre zarte Gestalt durch die Kälte davongehen, um eine Straßenecke biegen, ich weiß nicht, was sie erwartet, wohin sie sich begibt, ohne je zurückzuschrecken.
I n der Schule unterhalten wir uns leise über sie, wir benutzen Codes zur Einschätzung der Lage, lächeln verschwörerisch, wechseln verständnisinnige Blicke. Fast könnte man meinen, es wäre wie im Krieg, als die Gerechten jüdische Kinder versteckten. Wir sind Widerstandskämpfer. Ich liebe Lucas’ Gesichtsausdruck, wenn er morgens ankommt und mir schon von weitem leicht zunickt, zum Zeichen, dass alles halbwegs in Ordnung ist. Er mit seinem Mackergehabe kümmert sich um alles, er geht in den Supermarkt, putzt die Küche, räumt hinter ihr her und knipst das Licht aus, wenn sie eingeschlafen
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